Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

425 
lung, auf Beseitigung des Beweismonopols des 
Beklagten zugunsten des privaten und öffentlichen 
Klägers, auf Einführung von Rechtsmittelinstanzen. 
Vorbereitet durch die Praxis der geistlichen Ge- 
richte, die in der zweiten Hälfte des Mittelalters 
tief in das weltliche Recht eingriffen, vollzog sich 
seit 1495 auch im welltlichen Prozeßrecht die 
Rechtsrevolution, welche den nationalen Prozeß in 
allen Hauptsachen zugunsten des in Italien auf 
römisch-rechtlicher Grundlage durch Stadtrechte und 
päpstliche Gesetzgebung ausgebildeten „römisch- 
kanonischen“ oder „gemeinen“ Prozesses verdrängte. 
Derletztere beruhtauf Schriftlichkeitdes Verfahrens. 
Prozeßbetrieb, Wahrheitsermittlung (Inquisitions- 
prinzip) und Urteilsschöpfung sind dem Richter 
überlassen. 
IV. Das germanische Strafrecht ist eine 
Friedensordnung. Verbrechen, die nur den engeren 
Friedenskreis der Sippe stören (dahin gehören selbst 
Tötungsdelikte), sind der Verfolgung durch die 
Sippe im Weg der Fehde oder der Aussöhnung 
durch Bußzahlung und Urfehdeschwur überlassen. 
Der Kreis der Verbrechen gegen den Volksfrieden, 
deren Ahndung der Gesamtheit oblag, war im 
heidnischen Germanentum nicht unbedeutend, engte 
sich aber in der fränkischen Zeit zunächst auf 
wenige Fälle ein. Erst die kräftige Staatsgewalt 
Karls d. Gr. schuf kraft des königlichen Verord- 
nungsrechts (Banngewalt) zahlreiche Delikte gegen 
König und Gesamtheit, leitete auch schon den 
Übergang vom privaten Geldstrafrecht der volks- 
rechtlichen Bußkataloge zum peinlichen Strafrecht 
des deutschen Mittelalters ein. Das letztere baut 
langsam fortschreitend, namentlich in der Land- 
friedensbewegung und in den Stadtrechten, die 
Verfolgung der Verbrecher von Amts wegen weiter 
aus. Es zeigt bei vorwaltenden peinlichen Strafen 
für alle schwereren Delikte, jedoch gemildert durch 
die Ersatzmöglichkeit der „Ledigung“ der erkannten 
Strafe mittels Geldzahlung, dasselbe Bild terri- 
torialer und ständischer Rechtszersplitterung wie 
das Privatrecht. Gegen Ende des Mittelalters 
wurde allenthalben über Verrohung, Willkür und 
Bestechlichkeit der Strafjustiz geklagt, so daß das 
Reicheinschreiten mußte und im Strafgesetz Karls V. 
einen großen Erfolg errang. Die „Karolina“ ist 
eine Kodifikation des Strafprozesses und Straf- 
rechts nach italienisch-kanonischen Vorbildern mit 
Berücksichtigung nationaler Prozeßeinrichtungen 
(endlicher Rechtstag) und überlieferter Verbrechens- 
typen. Sie bildete die Grundlage des gemeinen 
deutschen Strafrechts bis zu den strafrechtlichen 
Neuerungen des Aufklärungszeitalters. 
V. Das älleste deutsche Privatrechtistreines 
Gewohnheitsrecht einer primitiven Wirtschafts- 
stufe, das sich durch typische Formenstrenge und 
reiche poetische Symbolik auszeichnet. Seine Kennt- 
nis verdankt man den Berichten antiker Schrift- 
steller, insbesondere des Tacitus, Rückschlüssen 
aus Quellen der folgenden Periode, sodann der 
rechts= und sprachvergleichenden Forschung auf dem 
Recht, Deutsches. 
  
426 
Gebiet der arischen und germanischen Kulturwelt. 
Geschäftsformen des Familienrechts, der künst- 
lichen Verwandtschaft (Einsippung, Wahlkind- 
chaft, Wahlbrüderschaft), Bargeschäfte in Fahr- 
nissen und Begründungsformen für Schuld und 
Haftung gehören zu diesem ältesten Bestand. Die 
fränkische Periode fügt die allmähliche Entwick- 
lung des Liegenschaftsrechts, die Fortbildung des 
Eherechts, die allmähliche Besserstellung der Frau 
im Recht hinzu und zeigt die ersten Berührungen 
zwischen germanischem und antikem Recht, das 
namentlich im Urkundenwesen zu einer eigenartigen 
Verschmelzung von weittragender Bedeutung führt. 
Die Volks= oder Stammesrechte dieser Periode 
bringen bereits Teile des Privatrechts zu gesetz- 
licher Aufzeichnung. Während die germanische 
Zeit nur einzelne Völkerschaften mit verschiedenem, 
freilich durch die gemeinsame Abstammung, die 
Gleichartigkeit und Einfachheit der wirtschaftlichen 
und sozialen Verhältnisse in ähnliche Bahnen ge- 
drängtem Privatrecht sah, hat die im Gefolge der 
Völkerwanderung sich vollziehende Stammesbil- 
dung die in den einzelnen Stämmen verbundenen 
Völkerschaften im wesentlichen zur Rechtseinheit 
gebracht. Dagegen sind die schon in karolingischer 
Zeit auftretenden Versuche, für das ganze Franken- 
reich einheitliches Privatrecht zu schaffen, erfolglos 
geblieben. Das deutsche Mittelalter ließ die frän- 
kische Gesetzgebung in Vergessenheit geraten. Das 
Privatrecht sank wieder zurück in eine Periode 
rein gewohnheitsrechtlicher Entwicklung, die an- 
gesichts der betrachteten politischen und sozialen 
Wandlungen in räumliche und ständische Rechts- 
zersplitterung führte, dergestalt, daß mit Bildung 
der Grundherrschaften, Territorien und Städte 
überall die Rechtsbildung eigne Wege einschlug. 
Eine reiche Privatrechtsgesetzgebung erwachte zu- 
erst wieder in den Städten, wo die gewandelten 
wirtschaftlichen und sozialen Daseinsbedingungen 
seit dem 12. Jahrh. zur Neubildung städtischer 
Rechtsgewohnheiten und zu ihrer Aufzeichnung in 
den Privilegien und Satzungen der Städte führten. 
Das Privatrecht der deutschen Städte steht zwar auf 
den älteren landrechtlichen Grundlagen auf, strebt 
aber nach Art alles bürgerlichen und kaufmännischen 
Rechts nach Abstreifung von Formen und Sym- 
bolen, nach Beseitigung der lästig gewordenen 
Verfügungsschranken des Familien= und Erbrechts. 
Vertragsrecht und Liegenschaftsrecht, namentlich 
Realkreditgeschäfte, differenzieren sich entsprechend 
den Bedürfnissen der Geldwirtschaft immer mehr. 
Die Verlautbarung der Rechtsgeschäfte vor Gericht 
oder Rat führt zur Anlage von Stadtbüchern, den 
Vorbildern der neuzeitlichen Grundbücher. Der 
Verkehr in Wertpapieren beginnt sich zu entwickeln. 
In den ländlichen Gebieten herrscht dagegen das 
Gewohnheitsrecht länger vor. Als einzigartiges 
Denkmal steht hier das bedeutendste Rechtsbuch 
des Mittelalters, der Sachsenspiegel des ost- 
fälischen Ritters Eike von Repgow, aus dem An- 
fang des 13. Jahrh. da. Privatrechtlichen Inhalt 
—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.