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sie sich Geltung nicht nur für einen einzelnen
Prozeß, sondern allgemein beilegten, was Justinian
auf jeden Fall der Auslegung eines Rechtssatzes
ausdehnte. Gleiche Bedeutung hatten kaiserliche
Urteile (decreta), welche allmählich nur noch in
der Form eines auf Bericht des Unterrichters er-
gangenen Reskripts erlassen wurden. Justinian
legte allen in mündlicher Verhandlung unter
Gegenwart der Parteien erlassenen Entscheidungen
allgemein verbindliche Kraft bei. Die mandata
enthielten Dienstvorschriften an die Beamten.
Neben den Konstitutionen bestand das Gewohn-
heitsrecht als Rechtsquelle fort, aber nur, soweit
es nicht der Vernunft oder dem Gesetz wider-
sprach. Eine eigenartige Bedeutung wohnte der
Rechtswissenschaft inne. Ursprünglich hatte die
Pflege sowohl des Rechts der Gottheit den Men-
schen gegenüber (kas) wie des Rechts der Menschen
untereinander (ius) in den Händen einer priester-
lichen Behörde, der pontifices, geruht. Sie gab
auf Anfragen Antwort, sie entschied den Rechts-
streit (actio). Die Klageformeln (actiones)
blieben auch dann noch ihr Geheimnis, als die
Zwölf-Tafel-Gesetzgebung fas und jus formell
getrennt hatte. Infolgedessen wurde das Rechts-
studium durch sie vermittelt. Um 300 v. Chr.
wurden gegen ihren Willen die Aktionen veröffent-
licht sog. ius Flavianum), was zur Verwelt-
lichung der Rechtsausbildung und der Rechts-
wissenschaft führte. Wie die pontifüces haben die
Juristen dem Rat suchenden Publikum Gutachten
über die Rechtsfragen (responsa) erteilt. Dadurch
übten sie auf die Rechtsprechung und auf die Fort-
bildung des Rechts einen starken Einfluß aus
(auctoritas prudentium). Dem Juristenrecht
gelang die Einführung des formlosen ius gen-
tium in den Verkehr unter den römischen Bür-
gern. Im Anschluß an das ius Flavianum
stellten die Juristen Geschäfts- und Klageformeln
zusammen, sammelten Responsen und kommen-
tierten die Gesetze. Demnächst wurden aus den
Responsen Grundsätze (regulae) entwickelt und
als Regularjurisprudenz vorgetragen. Auf grie-
chischer Bildung beruht dann die Darstellung des
Rechts nach Kategorien (generatim), zuerst durch
Quintus Mucius Scävola (Konsul 95 v. Chr.),
sowie die Begründung der Systematik des Rechts.
Um Christi Geburt wirkten unter August M.
Antistius Labeo und C. Ateius Capito als Respon-
denten, Rechtslehrer und Rechtsschriftsteller. Auf
ihren Gegensatz zueinander führt Pomponius
die Juristenschulen der Sabinianer und Proku-
lianer zurück, die mit dem 2. Jahrh. u. Chr. ver-
schwanden. Mit der Mitte des 3. Jahrh. erlosch
völlig die römische Rechtswissenschaft, das ius
respondendi verschwand mit Diokletian. Die
auctoritas prudentium galt jedoch in der Weise
sort, daß man sich auf die Schriften der Juristen
berief, die das ius respondendi besessen hatten.
Den Streitfragen über die Lesarten der Schriften
und über die responsionsberechtigten Juristen suchte
Recht, Römisches.
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das sog. Zitiergesetz der Kaiser Valentinian III.
und Theodosius II. vom 6. Nov. 426 ein Ende
zu machen; in ihm wurde das ius respondendi
dem Papinian (von Antoninus 212 getötet), dem
Paulus, dem Ulpian (getötet 228), dem Modestin
(244 noch lebend) und dem Gajus (178 lebend)
zuerkannt.
Dem Mißstand der Unübersichtlichkeit des
Rechts suchten private Sammlungen und gesetzliche
Kodifikationen zu steuern, wie der Codex Grego-
rianus unter Diokletian und der Codex Hermo-
genianus, die Fragmenta Vaticana von 438,
die Collatio legum Mosaicarum et Romana-
rum zwischen 390 und 438, der Codex Theodo-
siamus vom 15. Febr. 438 und die sog. Con-
sultatio veteris cuinsdam iuris consulti um
500, wie vor allem aber die Gesetzgebung Justi-
nians (1 565). Dieser stellte sich die große Auf-
gabe einer umfassenden Sichtung und Bearbeitung
des ganzen Privatrechts. Zunächst setzte er am
13. Febr. 528 eine Kommission ein, um aus den
vorgenannten Schriften und den sog. posttheodosi-
anischen Novellen, einer Privatsammlung nach
468, sowie den Gesetzen seiner unmittelbaren Vor-
gänger alles für die Rechtsprechung Brauchbare
auszuwählen und zusammen mit seinen eignen Kon-
stitutionen zu einem Gesetzbuch zusammenzustellen.
Dieser Codex lustinianus wurde am 7. April
529 publiziert, ist uns aber verloren gegangen.
Am 15. Dez. 530 trat unter der Leitung Tribo-
nians eine Kommission zusammen, welche aus der
Rechtsliteratur das Notwendigste auswählen und
zu einem Gesetzbuch verarbeiten sollte. Ihre
Arbeit wurde am 16. Dez. 553 als Digesta
oder rakurcu veröffentlicht. Zugleich mit den
Digesten wurde ein Lehrbuch für Anfänger ge-
schrieben, das am 21. Nov. 533 als Institu-
tiones veröffentlicht worden ist. Beide Werke
erhielten Gesetzeskraft vom 30. Dez. 553 ab.
Sodann wurde der Codex lustinianus umge-
arbeitet und ergänzt und als Codex lustinianus
am 16. Nov. 534 mit Gesetzeskraft vom 29. Dez.
veröffentlicht. In ihm hatte sich Justinian vor-
behalten, seine weiter ergehenden Konstitutionen
in ein neues Gesetzbuch zusammenzufassen. Solche
neue Gesetze (novellae leges) sind auch seit dem
1. Jan. 535 zahlreich ergangen, sie sind uns aber
nur in Privatsammlungen erhalten. Der Inhalt
der justinianischen Gesetzgebung bildete den Inhalt
des gemeinen Rechts in Deutschland. Die Be-
zeichnung ihrer Sammlung als Corpus iuris
civilis gehört dem 16. Jahrh. an. Das römische
Recht ist ununterbrochen Gegenstand des Unter-
richts und der wissenschaftlichen Behandlung ge-
blieben, insbesondere in Frankreich und Italien.
Am Ende des 11. Jahrh. beginnt in Bologna die
Tätigkeit der Glossatoren (von glossa). Begründer
der Glossatorenschule ist Irnerius (1 1140); sie
fand ihren Abschluß mit der von Accursius (1182
bis 1260) verfaßten großen Glosse (glossa ordi-
naria), die an Stelle der justinianischen Samm-