Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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digen Ausgangspunkts; das Recht aber erhält 
durch die Liebe Lebenswärme und Fruchtbarkeit. — 
Der ausgesprochene ideale Zweck des Rechts findet 
seine volle Bestätigung durch dessen Eigenschaft 
als Objekt der Gerechtigkeit. Schon die herkömm- 
liche Einteilung der letzteren weist auf die drei- 
fache Beziehung hin, nach welcher auch sie, und 
zwar vermöge ihrer objektiven Seite, eben jenem 
sozialen Ziel zu dienen hat. Ihre Aufgabe ist, 
jedem das Seinige zu sichern und dadurch die ver- 
nunftnotwendige und gesetzmäßige soziale Ord- 
nung zu vollziehen und zu erhalten, erstens in dem 
Koordinationsverhältnis der Gesellschaftsglieder 
untereinander (iustitia commutativa), zweitens 
in deren Subordination unter die soziale Einheit 
(eustitia legalis) und drittens in dem Verhält- 
nis des rückwirkenden Einflusses dieser sozialen 
Einheit auf die sämtlichen Glieder der Gesell- 
schaft (iustitia distributiva). Vgl. St Thomas, 
S. theol. 2, 2, q. 57, a. 1; d. 58, a. 5; q. 61, 
a. 1. — So ist also Richtung und Ziel jeder 
Rechtsordnung etwas im wesentlichen unverrückbar 
Gegebenes. Was der durch das ewige Vernunftgesetz 
gebotenen Sozialordnung widerstreitet, ist eben 
hierdurch unfähig, ein Recht zu sein; es ist und 
bleibt ein Unrecht, weil es mit dem wesentlichen 
Objekt der Gerechtigkeit, dem iustum, unverein- 
bar ist. 
b) In der wesentlichen Zweckbestimmung des 
Rechts durch den höchsten Ordner der menschlichen 
Gesellschaft ist zugleich der wahre Ursprung des 
Rechts selbst ausgesprochen. Es kann kein wirk- 
liches Recht geben, das nicht in irgend einer Weise 
schließlich aus Gott stammt. Diesen Charakter 
trägt das Recht offenbar, wie schon in seinem Be- 
griff, so in seiner Bestimmung und in seiner Eigen- 
schaft als bindendes Gesetz. Nach seiner Bestim- 
mung erscheint das Recht, ähnlich wie die Sitt- 
lichkeit, als ein Bestandteil der von Gott mit Not- 
wendigkeit gewollten Weltordnung. Nur dieser 
kommt es zu, die Menschheit auch in ihrem äußern 
gesellschaftlichen Dasein der Heiligkeit und Weis- 
heit Gottes gemäß zu ordnen und in dieser Ord- 
nung zu erhalten. Zu diesem Ende die Menschen 
einzeln und in ihrer Gesamtheit einer bindenden 
Rechtsgesetzgebung unterwerfen, ist daher eine an 
sich ausschließlich göttliche Funktion. Sie fand 
zunächst ihre Verwirklichung durch das unmittel- 
bar göttliche „Naturgesetz", das auf dem Weg 
natürlicher Erkenntnis in jedem vernunftbegabten 
Geschöpf sich promulgiert und im wesentlichen zu- 
gleich mit der sittlichen auch die gesamte natürliche 
Rechtsordnung in der Form evidenter deduktiver 
Prinzipien umfaßt. Außerdem wollte aber der 
höchste, an sich allein berechtigte Gesetzgeber auch 
die Menschen selbst zur Teilnahme an der Welt- 
ordnung berufen, indem er auf Grund desselben 
Naturgesetzes die Sozialautoritäten anordnete. 
Als solche haben diese, jede in ihrem Bereich, die 
Ermächtigung und den Auftrag, die natürlich ge- 
gebene allgemeine Rechtsordnung auf die je- 
Recht und Rechtsgesetz. 
  
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weiligen konkreten Verhältnisse im besondern an- 
zuwenden oder auch im Geist und in der idealen 
Richtung der natürlichen Gesetzgebung dieselbe nach 
Erfordernis der Umstände durch rein positive Be- 
stimmungen materiell zu ergänzen. Darauf gründet 
sich nach der christlichen Weltanschauung die ge- 
samte menschliche Gesetzgebung, das menschliche 
Recht. Es kann somit kein Recht (Rechtsgesetz) 
geben, das nicht ein Ausfluß einer gesetzgebenden 
Autorität wäre, entweder der göttlichen unmittel- 
bar oder einer menschlichen mit göttlicher Ermäch= 
tigung. 
Daraus ergeben sich nach der übereinstimmen- 
den Lehre des hl. Thomas und der gesamten christ- 
lichen Rechtsphilosophie (St Thomas a. a. O. 
2, 1, d. 95/96; St Augustin, De lib. arbitr. 
1, 5, De civit. Dei 19, 21; Suarez, De leg. 1, 
. 8 et 9) sehr wichtige Schlußfolgerungen. Jedes 
menschliche Recht bedarf, um wirkliches Recht zu 
sein, d. h. um für die Gewissen eine rechtsverbind- 
liche Kraft in Anspruch zu nehmen, einer doppelten 
objektiven Legitimation, einer formellen und einer 
materiellen. In ersterer Beziehung muß es von 
einer zuständigen Autorität und innerhalb der 
Grenzen ihrer (göttlichen) Ermächtigung ausgehen; 
in letzterer Hinsicht muß es seinem Inhalt nach 
der objektiven Gerechtigkeit und dem wesentlichen 
Ziel der von Gott gewollten Rechtsordnung ent- 
sprechen oder wenigstens nicht widersprechen. Es 
ist daher jeder rechtsverbindlichen Wirkung un- 
fähig, wenn es offenbar der Gerechtigkeit oder einem 
gleichzeitig verpflichtenden Gottesgesetz widerstreitet. 
Deshalb trägt der hl. Thomas kein Bedenken, 
jedem menschlichen Gesetz, das der innern Ver- 
wandtschaft mit dem natürlichen Gesetz gänzlich 
entbehrt, so daß es, als diesem widersprechend, in 
keiner Weise, auch nicht bezüglich seiner verbind- 
lichen Kraft, von demselben abgeleitet werden kann, 
die wesentliche Eigenschaft eines gültigen Gesetzes 
abzusprechen: non erit lex, sed legis corruptio 
(d. a. O. 2, 1, q. 95, a. 2; dieselbe Lehre haben 
die römischen Päpste unzähligemal in ihren öffent- 
lichen Kundgebungen vorgetragen (vgl. Enzyklika 
Leos XIII. Sapientiae christianae vom 10. Jan. 
1890|; mehreres hierüber s. d. Art. Naturrecht, 
Bd III). 
Demgegenüber hat die neuere Rechtswissenschaft 
sich gewöhnt, zwischen „formellem“ und „mate- 
riellem“ Recht zu unterscheiden. Formell nennt 
man das „Recht“, insofern es von der legitimen 
gesetzgebenden Gewalt unter den verfassungs- 
mäßigen Formen als solches festgesetzt und pro- 
mulgiert ist; es heißt materielles Recht, wenn es 
überdies seinem Inhalt nach weder rechtlich noch 
sittlich zu beanstanden ist. Sodann pflegt man 
nicht selten auch dem rein „formellen Recht“, so- 
lang es in dieser Rechtsform besteht, eine wirklich 
bindende Kraft beizulegen, wenn auch vielfach unter 
einer gewissen Beschränkung und nicht ohne gleich- 
zeitige Betonung der Notwendigkeit, auf gesetz- 
lichem Weg eine möglichst baldige Aufhebung des-
	        
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