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digen Ausgangspunkts; das Recht aber erhält
durch die Liebe Lebenswärme und Fruchtbarkeit. —
Der ausgesprochene ideale Zweck des Rechts findet
seine volle Bestätigung durch dessen Eigenschaft
als Objekt der Gerechtigkeit. Schon die herkömm-
liche Einteilung der letzteren weist auf die drei-
fache Beziehung hin, nach welcher auch sie, und
zwar vermöge ihrer objektiven Seite, eben jenem
sozialen Ziel zu dienen hat. Ihre Aufgabe ist,
jedem das Seinige zu sichern und dadurch die ver-
nunftnotwendige und gesetzmäßige soziale Ord-
nung zu vollziehen und zu erhalten, erstens in dem
Koordinationsverhältnis der Gesellschaftsglieder
untereinander (iustitia commutativa), zweitens
in deren Subordination unter die soziale Einheit
(eustitia legalis) und drittens in dem Verhält-
nis des rückwirkenden Einflusses dieser sozialen
Einheit auf die sämtlichen Glieder der Gesell-
schaft (iustitia distributiva). Vgl. St Thomas,
S. theol. 2, 2, q. 57, a. 1; d. 58, a. 5; q. 61,
a. 1. — So ist also Richtung und Ziel jeder
Rechtsordnung etwas im wesentlichen unverrückbar
Gegebenes. Was der durch das ewige Vernunftgesetz
gebotenen Sozialordnung widerstreitet, ist eben
hierdurch unfähig, ein Recht zu sein; es ist und
bleibt ein Unrecht, weil es mit dem wesentlichen
Objekt der Gerechtigkeit, dem iustum, unverein-
bar ist.
b) In der wesentlichen Zweckbestimmung des
Rechts durch den höchsten Ordner der menschlichen
Gesellschaft ist zugleich der wahre Ursprung des
Rechts selbst ausgesprochen. Es kann kein wirk-
liches Recht geben, das nicht in irgend einer Weise
schließlich aus Gott stammt. Diesen Charakter
trägt das Recht offenbar, wie schon in seinem Be-
griff, so in seiner Bestimmung und in seiner Eigen-
schaft als bindendes Gesetz. Nach seiner Bestim-
mung erscheint das Recht, ähnlich wie die Sitt-
lichkeit, als ein Bestandteil der von Gott mit Not-
wendigkeit gewollten Weltordnung. Nur dieser
kommt es zu, die Menschheit auch in ihrem äußern
gesellschaftlichen Dasein der Heiligkeit und Weis-
heit Gottes gemäß zu ordnen und in dieser Ord-
nung zu erhalten. Zu diesem Ende die Menschen
einzeln und in ihrer Gesamtheit einer bindenden
Rechtsgesetzgebung unterwerfen, ist daher eine an
sich ausschließlich göttliche Funktion. Sie fand
zunächst ihre Verwirklichung durch das unmittel-
bar göttliche „Naturgesetz", das auf dem Weg
natürlicher Erkenntnis in jedem vernunftbegabten
Geschöpf sich promulgiert und im wesentlichen zu-
gleich mit der sittlichen auch die gesamte natürliche
Rechtsordnung in der Form evidenter deduktiver
Prinzipien umfaßt. Außerdem wollte aber der
höchste, an sich allein berechtigte Gesetzgeber auch
die Menschen selbst zur Teilnahme an der Welt-
ordnung berufen, indem er auf Grund desselben
Naturgesetzes die Sozialautoritäten anordnete.
Als solche haben diese, jede in ihrem Bereich, die
Ermächtigung und den Auftrag, die natürlich ge-
gebene allgemeine Rechtsordnung auf die je-
Recht und Rechtsgesetz.
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weiligen konkreten Verhältnisse im besondern an-
zuwenden oder auch im Geist und in der idealen
Richtung der natürlichen Gesetzgebung dieselbe nach
Erfordernis der Umstände durch rein positive Be-
stimmungen materiell zu ergänzen. Darauf gründet
sich nach der christlichen Weltanschauung die ge-
samte menschliche Gesetzgebung, das menschliche
Recht. Es kann somit kein Recht (Rechtsgesetz)
geben, das nicht ein Ausfluß einer gesetzgebenden
Autorität wäre, entweder der göttlichen unmittel-
bar oder einer menschlichen mit göttlicher Ermäch=
tigung.
Daraus ergeben sich nach der übereinstimmen-
den Lehre des hl. Thomas und der gesamten christ-
lichen Rechtsphilosophie (St Thomas a. a. O.
2, 1, d. 95/96; St Augustin, De lib. arbitr.
1, 5, De civit. Dei 19, 21; Suarez, De leg. 1,
. 8 et 9) sehr wichtige Schlußfolgerungen. Jedes
menschliche Recht bedarf, um wirkliches Recht zu
sein, d. h. um für die Gewissen eine rechtsverbind-
liche Kraft in Anspruch zu nehmen, einer doppelten
objektiven Legitimation, einer formellen und einer
materiellen. In ersterer Beziehung muß es von
einer zuständigen Autorität und innerhalb der
Grenzen ihrer (göttlichen) Ermächtigung ausgehen;
in letzterer Hinsicht muß es seinem Inhalt nach
der objektiven Gerechtigkeit und dem wesentlichen
Ziel der von Gott gewollten Rechtsordnung ent-
sprechen oder wenigstens nicht widersprechen. Es
ist daher jeder rechtsverbindlichen Wirkung un-
fähig, wenn es offenbar der Gerechtigkeit oder einem
gleichzeitig verpflichtenden Gottesgesetz widerstreitet.
Deshalb trägt der hl. Thomas kein Bedenken,
jedem menschlichen Gesetz, das der innern Ver-
wandtschaft mit dem natürlichen Gesetz gänzlich
entbehrt, so daß es, als diesem widersprechend, in
keiner Weise, auch nicht bezüglich seiner verbind-
lichen Kraft, von demselben abgeleitet werden kann,
die wesentliche Eigenschaft eines gültigen Gesetzes
abzusprechen: non erit lex, sed legis corruptio
(d. a. O. 2, 1, q. 95, a. 2; dieselbe Lehre haben
die römischen Päpste unzähligemal in ihren öffent-
lichen Kundgebungen vorgetragen (vgl. Enzyklika
Leos XIII. Sapientiae christianae vom 10. Jan.
1890|; mehreres hierüber s. d. Art. Naturrecht,
Bd III).
Demgegenüber hat die neuere Rechtswissenschaft
sich gewöhnt, zwischen „formellem“ und „mate-
riellem“ Recht zu unterscheiden. Formell nennt
man das „Recht“, insofern es von der legitimen
gesetzgebenden Gewalt unter den verfassungs-
mäßigen Formen als solches festgesetzt und pro-
mulgiert ist; es heißt materielles Recht, wenn es
überdies seinem Inhalt nach weder rechtlich noch
sittlich zu beanstanden ist. Sodann pflegt man
nicht selten auch dem rein „formellen Recht“, so-
lang es in dieser Rechtsform besteht, eine wirklich
bindende Kraft beizulegen, wenn auch vielfach unter
einer gewissen Beschränkung und nicht ohne gleich-
zeitige Betonung der Notwendigkeit, auf gesetz-
lichem Weg eine möglichst baldige Aufhebung des-