441
selben zu fordern. Nun begründet aber nach christ-
lichem Rechtsbegriff die bloße äußere Form eines
Gesetzes, sie mag konstitutionell noch so richtig
sein, durch sich allein noch kein bestehendes, die
Gewissen bindendes Recht, solange dessen Inhalt
vor Gottes Heiligkeit objektiv unzulässig (nefas)
ist. Ein nicht existierendes Recht kann also un-
möglich eine „rechtsverbindliche“ Wirkung haben,
es sei denn, daß die peinliche Zwangslage, in
welche dadurch die Untergebenen vermittels des
Strafapparats versetzt werden können, eine solche
genannt werden dürfte. In einem solchen Fall
kann allerdings für dieselben unter Umständen
eine ethische Pflicht entstehen, auch einem offenbar
ungerechten Gesetz, einer rechtlosen Willkür sich zu
fügen und deren Folgen über sich ergehen zu
lassen, eher als durch unklugen Widerstand mög-
licherweise ein größeres Ubel, die Störung der
öffentlichen Ordnung, zu veranlassen. Darin liegt
aber keine Anerkennung des vermeintlichen Ge-
setzes; ganz unabhängig von letzterem ist jene even-
tuelle Pflicht in der christlichen Liebe und Klug= hab
heit begründet. Dieselbe kann jedoch nur da ein-
treten, wo es sich um ein „gesetzliches“ Unrecht
handelt, dem man sich ohne Verletzung des Ge-
wissens unterziehen darf, niemals aber, wo das
„formelle Recht“ an das Gewissen der Beteiligten
moralisch unmögliche Zumutungen stellt. Selbst-
verständlich ist in diesem Fall die unbedingte Ab-
lehnung derselben sittlich geboten, wie peinlich auch
die Folgen sein mögen. Das alles entspricht genau
dem vom hl. Thomas für dergleichen Vorkomm-
nisse klar aufgestellten Rechtsgrundsatz (a. a. O.
„ 1, d. 96, a. 4); der irreführende Aus-
druck „formelles Recht“ im heutigen Sinn war
ihm allerdings noch nicht bekannt.
3. Der ideale Zweck und der Ursprung des
Rechts begründen seine objektive Heiligkeit und
seinen wesentlich sittlichen Charakter. Die Rechts-
ordnung ist die von Gottes heiligem Willen aus-
gehende sittliche Ordnung selbst, nicht zwar nach
ihrem ganzen Umfang, sondern speziell nur in Be-
ziehung auf den Bereich der objektiven Gerechtig-
keit. Hier liegt ganz eigentlich das unterscheidende
Merkmal des Rechtsbegriffs im Sinn des Christen-
tums und jeder gesunden Rechtsphilosophie gegen-
über den sich widersprechenden Fälschungen des-
selben von seiten der neueren, vom Christentum
absehenden Rechtssysteme. Der gemeinsame ne-
gative Charakter aller dieser Irrtümer besteht in
der Ablösung des Rechts von jedem über dem
Menschen stehenden Gottesgesetz. Auf dieser
Grundlage wird sodann das Recht entweder zu
einer mechanischen Zwangseinrichtung herab-
gewürdigt, einzig zur Lösung des Problems, die
individuelle Freiheit als Selbstzweck allen gleich-
zeitig zu ermöglichen (Kant), oder es wird der
pantheistisch vergötterte Staat zur Quelle alles 2, 2
Rechts gemacht und so die persönliche Freiheit
samt dem Gewissen der Staatsangehörigen einer
mit Macht ausgerüsteten menschlichen Willkür aus-
Recht und Rechtsgesetz.
442
geliefert (Hegel), oder endlich, man läßt nach der
Methode des neuesten wissenschaftlichen Atheismus
(Darwin-Spencer) die Rechtsgewohnheiten und
Rechtsideen überhaupt als ein bloß tatsächliches
Resultat auf Grund des allgemein Nützlichen aus
der menschlichen Entwicklung hervorgehen, und
dann hat das Recht seinen einzigen Maßstab im
Utilitarismus. — So steht der christliche Rechts-
begriff allein da nicht nur als das von Gott ge-
setzte sittliche Fundament aller menschenwürdigen
organischen Gesellschaftsordnung, sondern zugleich
als der mächtigste Schutzwall der persönlichen
Würde und Freiheit des Menschen gegen die An-
maßungen menschlicher Willkür. Aus dem christ-
lichen Rechtsbegriff ist überdies folgerichtig auch
die christliche Staatsidee hervorgegangen; ebenso
ließe sich unschwer nachweisen, daß anderseits alle
von ihr abweichenden Staatsideen, die im Verlauf
der Geschichte in Erscheinung traten, ihren Aus-
gangspunkt in einer verhängnisvollen Fälschung
oder Verstümmlung jenes Rechtsbegriffs gehabt
aben.
4. Es erübrigt noch, eine andere, ebenfalls
charakteristische Eigenschaft des Rechts zu er-
wähnen, welche scheinbar, aber auch nur scheinbar,
dem bisher betonten sittlichen Charakter entgegen-
steht, nämlich seine äußere Erzwingbarkeit.
Gehören auch Recht und Moral nach dem Ge-
sagten untrennbar zu der einen sittlichen Welt-
ordnung, und können sie somit niemals, ohne die
Einheit der letzteren aufzuheben, als zwei unab-
hängig koordinierte und selbständig nebeneinander
bestehende Gebiete betrachtet werden, so ist dessen-
ungeachtet das eigentliche Rechtsgebiet von dem
rein sittlichen wohl zu unterscheiden. In dem
ersteren sind, streng genommen, auch jene recht-
lichen Beziehungen noch nicht eingeschlossen, welche
sich mehr auf Billigkeit (aequitas) als auf einen
individuell bestimmten, faßbaren Rechtsgrund
stützen, wie dies vielfach bezüglich der Anforde-
rungen der iustitia distributiva der Fall ist.
Sie gehören zwar zum Rechtsgebiet, aber als
„unvollkommenes“ Recht. Dem vollkommenen
Recht nun ist es eigen, daß es stets die strenge
Anforderung auf objektive Verwirklichung und
darum die Erzwingbarkeit in sich trägt, während
dies beim rein Sittlichen als solchem nicht der
Fall ist. Das haben auch die Alten nicht weniger
als die Neueren sehr wohl gekannt und betont,
wenn sie das Recht als iustum oder obiectum
justitiae definierten. Nicht von der Tugend der
Gerechtigkeit, wie man ihnen fälschlich vorge-
worfen hat, haben sie den Rechtsbegriff abgeleitet,
sondern von dem, was objektiv der Gerechtigkeit
entspricht und deshalb, wie ausdrücklich aner-
kannt wird, auch dem widerstrebenden Willen
gegenüber erzwingbar ist (St Thomas a. a. O.
, 2, d. 57, a. 1; 2, 1, d. 96, a. 5: Lex
de sui ratione . habet vim coactivam).
Ebensowenig mißkannte man die tiefere philo-
sophische Begründung der Erzwingbarkeit. Die-