Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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selbe ist offenbar eine notwendige Folge des be- 
sondern Berufs der gesamten Rechtsordnung und 
deshalb wie dieser in der Anordnung Gottes be- 
gründet. Durch jene soll, wie nachgewiesen wurde, 
die Gesellschaft in ihrer Gliederung wie in ihrer 
Gesamtheit nach den Anforderungen des göttlichen 
Gesetzes äußerlich geordnet und in dieser Ord- 
nung erhalten werden. Die Gesellschaft ist aber 
auf ihr irdisches Dasein beschränkt; folglich müssen 
die Bedingungen ihres von Gott gewollten ge- 
ordneten Bestands, welche im Recht liegen, in der 
irdischen Gegenwart ihre Verwirklichung finden. 
Sie müssen innerhalb der Gesellschaft selbst er- 
zwingbar sein, während die innere sittliche Ver- 
antwortlichkeit der einzelnen Gott gegenüber im 
Jenseits ihren Abschluß erhält. 
Es ist übrigens prinzipiell von höchster Wich- 
tigkeit, sich von der „Erzwingbarkeit“, soweit sie 
jedem wirklichen Recht als wesentliche Eigenschaft 
beigelegt zu werden pflegt, einen richtigen Begriff 
zu bilden. Sie besteht zunächst keineswegs in 
dem Vorhandensein einer hinreichenden physischen 
Macht, den Zwang tatsächlich und mit Erfolg 
durchzuführen, obwohl sie zu derselben in einer 
äußern Beziehung steht. Als ein dem Recht inner- 
lich anhaftendes Moment kann die Erzwingbarkeit 
an sich nichts anderes bedeuten als eine dem Recht 
zustehende moralische Autorisation, sich, wo nötig, 
auch durch Zwang äußere Geltung zu verschaffen. 
Ob im einzelnen Fall hinreichende physische Macht- 
mittel zu Gebote stehen oder nicht, kann von 
mannigfachen, zufälligen Umständen bedingt sein. 
Von diesen aber den wirklichen Bestand oder Nicht- 
bestand des im übrigen vollgültigen Rechts sogar 
begrifflich abhängig machen wollen, hieße das 
Recht seines wesentlich moralischen Charakters ent- 
kleiden und es zu einem materiellen Faktor herab- 
würdigen. Es kann daher unzweifelhaft an sich er- 
zwingbares und wirkliches Recht geben, auch wenn 
die Macht fehlt, demselben tatsächlich wirksame 
Geltung zu verschaffen, was besonders augenfällig 
in Bezug auf Rechte im Sinn rechtlicher Befug- 
nisse zutage tritt. Es war teils ein Mißverständnis 
über die philosophische Bedeutung der rechtlichen 
Erzwingbarkeit, teils eine zu einseitige Betonung 
der gleichsam als mechanisch gedachten Außerlich- 
keit des Rechts und infolgedessen eine Verwechs- 
lung von Objektivität und Positivität, welche im 
19. Jahrh., selbst auf christlichem Standpunkt, 
wenn auch unter dem Einfluß einer nichtchristlichen 
Philosophie, zu einer bedauerlichen Verstümmlung 
des christlichen Rechtsbegriffs Veranlassung bot. 
Durch die Verneinung jedes rechtsverbindlichen 
Naturrechts zugunsten des ausschließlich positiven 
Rechts war im wesentlichen diese Irrung voll- 
zogen, in der edlen Absicht freilich, den konser- 
vativen Interessen der Gesellschaft zu dienen, tat- 
sächlich aber durch die Logik des Irrtums zu einer 
wesentlichen Gefährdung derselben. 
IV. Rechtliche Befugnis. Das Recht als 
rechtliche Befugnis aufgefaßt, setzt das Recht in 
Recht und Rechtsgesetz. 
  
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dem bisher erörterten Sinn als Quelle voraus 
und nimmt deshalb an dessen wesentlichen Eigen- 
schaften teil. 
1. Dasselbe läßt sich füglich definieren: eine 
moralische, unverletzliche Befugnis, etwas zu tun, 
zu besitzen oder zu fordern. Es ist eine Befugnis, 
also ein Können, während die Pflicht ein Sollen 
ist. Aber es ist eine moralische, d. i. auf Ver- 
nunftprinzipien beruhende Befugnis, und dadurch 
unterscheidet sich das Recht von dem bloß phy- 
sischen Können. Es kann somit ein Recht bestehen 
ohne physische Macht, wie letztere ohne das Recht. 
Diese moralische Befugnis ist überdies eine un- 
verletzliche, d. i. eine solche, welcher in andern 
Vernunftwesen eine wahre Pflicht der Gerechtig- 
keit entspricht, dieselbe tatsächlich zu achten und 
  
daher, je nach dem besondern Gegenstand der- 
selben, entweder den Inhaber der Befugnis in 
deren Genuß und Gebrauch nicht zu behindern 
oder auch zu dessen Gunsten positiv tätig zu sein 
durch Leistung dessen, was er zu fordern befugt 
ist. Dadurch unterscheidet sich die Berechtigung 
von der einfachen Erlaubtheit einer Sache, welche 
an sich nicht mehr sagt, als dieselbe sei durch kein 
Gesetz verboten. Es läßt sich sonach kein Recht 
denken, dem nicht anderseits eine entsprechende 
Pflicht gegenüberstände, wenigstens die allgemeine 
negative Pflicht, dasselbe in keiner Weise zu be- 
einträchtigen. Diese beiden Elemente nun, das 
Recht und die ihm anderseits entsprechende Pflicht, 
welche zum Unterschied von andern vom Recht un- 
abhängigen Pflichten Rechtspflicht genannt wird, 
bilden zusammen ein „Rechtsverhältnis“. Sämt- 
liche Rechtsverhältnisse, deren es in der menschlichen 
Gesellschaft unzählige gibt, gehören als Einzel- 
momente zum allgemeinen Inhalt des Rechts in 
der Bedeutung von Rechtsordnung. 
2. In jedem Rechtsverhältnis sind zu unter- 
scheiden: das Rechtssubjekt, d. i. der Inhaber des 
Rechts (subiectum iuris); der oder die Träger 
der gegenüberstehenden Rechtspflicht (terminus 
iuris); das Rechtsobjekt, d. i. der Gegenstand der 
rechtlichen Befugnis (materia iuris); ein be- 
stimmter Rechtstitel (titulus juris). Sowohl 
Rechtssubjekt als Träger einer Rechtspflicht kann 
nur eine (physische oder moralische) Person sein. 
Von „Rechten“ vernunftloser Wesen sprechen, wie 
es nicht wenigen Pantheisten, ferner vielen Evo- 
lutionisten und Anhängern der Tierschutzvereine 
beliebt, heißt die wahre Natur des Rechts miß- 
kennen (vgl. St Thomas, Cont. gent. 3, 112; 
Lessius, De iustitia et iure 2, c. 9, d. 1). Rechts- 
objekt hingegen kann niemals eine Person als 
solche, sondern nur eine Sache sein, d. h. etwas, 
was seiner Natur nach dem Menschen als Mittel 
zum Zweck untergeordnet ist. Der Anspruch, über 
die Person eines andern als Gebrauchsobjekt zu 
verfügen, kann daher nur als widerrechtliche Skla- 
verei angesehen werden. Die „Sachen“ aber, die 
sich als Gegenstand des Rechts eignen, werden in 
dessen Definition selbst auf drei Klassen zurück-
	        
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