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beruht oder daß die tatsächlichen Voraussetzungen
fehlen, welche die Behörde zum Erlaß der Ver-
fügung berechtigt haben würden. Im Reichsrecht
sind die Rechtsmittel für die einzelnen Materien
selbständig geregelt. Als leitender Grundsatz wird
sich aufstellen lassen, daß über Verwaltungsmaß-
regeln gegenüber beteiligten Personen und An-
stalten sowie über Streitigkeiten zwischen den
öffentlichen Anstalten die Verwaltungsbehörden
im Weg der Beschwerde oder im Weg des Ver-
waltungsstreitverfahrens, dagegen über Ansprüche
von einzelnen gegen Anstalten, welche auf öffent-
lichem Recht beruhen, auf deren Berufung Sonder-
gerichte zu entscheiden haben. So gewährt die
Gewerbeordnung gegen Bescheide der Verwaltungs-
behörden mit gewerberechtlichem Inhalt den Rekurs
an landesrechtliche Verwaltungsbehörden, dessen
Gestaltung in der Gewerbeordnung aufgestellten
Mindesterfordernissen zu genügen hat. Das Rekurs-
verfahren untersteht dem Landesrecht, nur für seine
Einlegung und Rechtfertigung ist reichsrechtlich
eine Frist von zwei Wochen seit der Eröffnung des
Bescheids vorgeschrieben. Über den Rekurs wird
in Preußen im Verwaltungsstreitverfahren ent-
schieden, doch ist die Berufung ausgeschaltet und
nur die Revision als Rechtsmittel zugelassen. An
die Gewerbeordnung haben sich die auf das Ver-
sicherungswesen bezüglichen Reichsgesetze ange-
schlossen. Die Rekursinstanz gegen die auf Be-
rufung des Verletzten erlassenen Entscheidungen
der Schiedsgerichte bildet das Reichsversicherungs-
amt, soweit nicht ein Landesversicherungsamt ein-
gerichtet und zulässig ist. Geschäftsgang und Ver-
fahren vor den Schiedsgerichten und den Ver-
sicherungsämtern sind durch Verordnungen ge-
regelt. Den Privatversicherungsanstalten steht
gegen gesetzlich begrenzte Entscheidungen des Auf-
sichtsamts für Privatversicherungen innerhalb eines
Monats der Rekurs an das Aufsichtsamt in ver-
änderter und stärkerer Besetzung und gegen seine
Strafandrohungen binnen zwei Wochen die Be-
schwerde an dasselbe zu. Für das Patentwesen
ist gegen die Beschlüsse der Patentamtsabteilungen
für die Patentanmeldungen, für Gebrauchsmuster
oder Warenzeichen sowie der Abteilung für die
Anträge auf Erklärung der Nichtigkeit oder auf
Zurücknahme von Patenten die Beschwerde an die
zuständige Beschwerdeabteilung des Patentamts
gegeben, welche binnen Monatsfrist seit der Zu-
stellung des Beschlusses einzulegen ist; gegen die
Entscheidungen über die Nichtigkeit oder die Zurück-
nahme eines Patents findet die Berufung an das
Reichsgericht statt, welche binnen sechs Wochen nach
der Zustellung der Entscheidung bei dem Patent-
amt mit Begründung angemeldet werden muß.
Im Post= und Telegraphenwesen ist gegen Straf-
bescheidewegen Gebührendefraudationen der Rekurs
an die der Oberpostdirektion vorgesetzte Behörde
und die Berufung auf richterliche Entscheidung
wahlweise gewährt. Die Beispiele zeigen, wie
mannigfaltig die Rechtsmittel sind. Da jedoch ver-
Rechtspflege — Regentschaft.
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schiedentlich die Entscheidungen auf die Beschwer-
den endgültig sind, so macht sich namentlich im
Gewerbewesen das Bestreben geltend, eine weitere
Beschwerde als regelmäßiges Rechtsmittel zuzu-
lassen. Anlaß hat dazu die der Handwerksorgani-
sation zugrunde liegende Unterscheidung zwischen
„Fabrik“ und „Handwerk“ gegeben, deren Be-
griffe in den Entscheidungen des Reichsgerichts
noch nicht ausreichend geklärt sind. Die Bewegung
hat noch zu keinem Ergebnis geführt.
Das Reichsbeamtengesetz gibt den Reichsbeamten
gegen die Verhängung von Ordnungsstrafen die
Beschwerde und die weitere Beschwerde an seine
vorgesetzte Behörde, gegen das Urteil der Disezi-
plinarkammer oder der Militärdisziplinarkommis-
sion auf Entfernung aus dem Amt die Berufung
an den Disziplinarhof am Sitz des Reichsgerichts,
und gegen den Beschluß auf Erstattung eines De-
fekts sowohl die Beschwerde im Instanzenzug wie
die Berufung auf den Rechtsweg.
5. Nach dem Kirchenrecht ist gegen Ent-
scheidungen in Straf= und Disziplinarsachen die
Appellation und Oberappellation gegeben, in
Disziplinarsachen hat aber die Appellation keinen
Suspensiveffekt und bei geheimen Vergehen kann
der Bischof die Suspension vom Ordo und dadurch
von der Ausübung des Amts oder Benefiziums
ohne gerichtliche Verhandlung ex informata con-
scientia, also auf Grund seiner außergerichtlich
gewonnenen ÜUberzeugung, verhängen, was die
Appellation als Rechtsmittel ausschließt. Bei Ent-
lassung eines Kirchenvorstehers oder eines kirch-
lichen Gemeindevertreters durch die bischöfliche
Behörde steht in Preußen dem Beschuldigten die
Beschwerde an den Minister der geistlichen An-
gelegenheiten zu.
Literatur. v. Kries, Die R. im Zivil= u.
Strafprozeß (1880); die Kommentare zur deutschen
Zivilprozeßordnung von Gaupp-Stein, Petersen
(Remele)-Anger, Seuffert, Struckmann-Koch,
Reincke; die Lehrbücher von Planck, Schmidt, Hell-
mann; Birkmeyer, Enzyklopädie der Rechtswissen-
schaft; Holtzendorff, Enzyklopädie; v. Lilienthal,
Strafprozeßrecht; Arndt, Staatsrecht u. Verwal-
tungsrecht. [Betzinger, rev. Spahn.]
Rechtspflege s. Staats= und Selbstverwal-
tung.
Rechtsphilosophie s. Naturrecht und
Rechtsphilosophie.
Rechtswissenschaft s. Recht und Rechts-
gesetz; vgl. auch Staatswissenschaften.
Regalien s. Gebühren.
Regentschaft. IBegriffsbestimmung. Re-
gierungsstellvertretung im engeren Sinn. Reichs-
oder Regierungsverwesung oder Regentschaft.]
I. Begriffsbestimmung. Wenn der Herrscher
einer Monarchie aus irgend einem Grund an der
persönlichen Ausübung der Regierungsgeschäfte
verhindert ist, so muß die mangelnde Regierungs-
tätigkeit des Herrschers durch die Tätigkeit anderer
ersetzt werden; denn die Befugnisse, die für den