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dem verkündeten Glaubenssatz sofort und ohne
Rückhalt.
III. Die gegen die katholische Kirche herauf-
ziehenden Stürme rufen August Reichensperger
1870 wieder auf den Plan. An der Gründung
des „Zentrums“ im preußischen Landtag wie im
Reichstag nimmt er hervorragenden Anteil. Wahl-
aufruf zum Land= und Reichstag sind sein Werk
wie auch die Abfassung von Statuten und Ge-
schäftsordnung des Zentrums im Reichstag.
Windthorst hielt sich im Anfang zurück; erst auf
besondere Einladung trat er bei. Die Führung
lag in den ersten Jahren noch in den Händen der
Gebrüder Reichensperger sowie v. Mallinckrodts.
Die Adreßdebatte (Nichtintervention), der Antrag
auf Ubernahme der Grundrechte in die Reichs-
verfassung führen August Reichensperger mitten
ins Feuer. Der nun entbrennende Kulturkampf,
die Mitarbeit an der neuen Reichsgesetzgebung
(wirtschaftliche Fragen, Justizgesetze) in Fraktion,
Kommissionen und Plenum, die Tätigkeit für
politische Presse und in künstlerischen Fragen muten
dem Greis eine große Arbeitslast zu, die er mit
jugendlicher Frische bewältigt.
Im folgenden eine Zeichnung seiner Stellung-
nahme bis zum Abschied von der Tribüne. Er
spricht gegen Laskers Antrag auf Ausdehnung der
Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung auf bürger-
liches Recht, ist gegen das Armee-Triennat, betont
Falk gegenüber die Pflicht der Regierung zum
Schutz der Minderheiten, nimmt Windthorst gegen
Bismarck in Schutz, welcher dessen Abschüttlung
durch das Zentrum verlangt, spricht für Preßfrei-
heit in Elsaß-Lothringen, bekämpft die Abberufung
des Botschafters beim Heiligen Stuhl, hält seine
machtvolle Rede gegen das Jesuitengesetz (mora-
lischer Selbstmord des Liberalismus), erklärt sich
gegen Aufhebung der Schlacht= und Mahlsteuer,
widerspricht der Anderung der preußischen Ver-
fassung (Art. 15, 18), bekennt sich als Anhänger
der indirekten Steuern, bekämpft die Errichtung
eines Reichseisenbahnamts und die wachsenden
Militärausgaben, ist Gegner des Impfzwangs
und der Zivilehe. Dazwischen liegt der aufreibende
Kampf gegen die Maigesetze. 1875 erfolgt die
beantragte Pensionierung (aber so, „als ob ich
silberne Löffel gestohlen hätte“; vgl. Kraus in dem
unten zitierten Aufsatz)z. — Während August
Reichensperger anfangs (1878) gegen das Sozia-
listengesetz gestimmt hatte (Diktatur der Polizei),
war er 1884 dafür, weil die Sozialdemokratie
ihm eine revolutionäre Schwenkung durchgemacht
zu haben schien. Anläßlich des Nobilingschen
Mordanschlags prägte er das (später von Caprivi
in anderer Fassung wiederholte) Wort „Hie Katho-
lizismus, hie Atheismus“, betonte (1879) die
Notwendigkeit allgemeiner Abrüstung, war für die
Franckensteinsche Klausel und das Tarifgesetz, trat
für die Polen ein, gegen die Militärvorlage von
1880, gegen den westfälischen Kanal und die
Kolonialpolitik, arbeitete erfolgreich an der Sozial-
Reichensperger, August.
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gesetzgebung sowie an der Beseitigung der Mai-
gesetze mit. Infolge lebensgefährlicher Erkrankung
nahm er Abschied vom parlamentarischen Leben
(1885), überhäuft von Dankes= und Ehren-
bezeigungen seiner Gesinnungsgenossen.
Noch zehn Jahre der Muße waren dem Greis
beschert, welche er in unverminderter Frische des
Geistes und Körpers ausnutzte zum Studium der
Literatur, fruchtbarer kunstschriftstellerischer Tätig-
keit und politischem Wirken. Seine letzten öffent-
lichen Worte (als Ehrenpräsident der General=
versammlung deutscher Katholiken zu Köln 1894)
gipfelten in dem Schlußsatz: „Darauf beruht ja
vor allem unsere Stärke — in der Einigkeit der
glaubenstreuen Katholiken, ut ommes umnum.“ —
Er starb am 16. Juli 1895.
IV. Das Programm Reichenspergers als
Staatsmann läßt sich zusammenfassen in die
Worte: geordnete staatliche Freiheit auf christlicher
Grundlage, Freiheit der Kirche und ihrer Organe,
echt christliche Volksschule, Parität und Recht für
jedermann.
„Ohne Anerkennung einer höheren Autorität ist
jede politische Ordnung unmöglich.“ „Die Frei-
heiten sind solidarisch: wer die kirchliche Freiheit
nicht achtet, achtet auch die bürgerliche Freiheit
nicht.“ „Wer die Freiheit anderer nicht ehrt, ist
selbst der Freiheit nicht wert.“ „Ein Volk über-
lebt seine Religion nicht lange.“ — In der Zeit
der Bedrängnisse der Kirche durch die Staats-
gewalt schien ihm für das Verhältnis zwischen
Staat und Kirche die holländische und englische
Formel „Freie Kirche im freien Staat“ die zu-
treffendste. Doch überließ er es auf den Rat des
Kardinals Ledochowski den Gegnern, eine solche
Reglung der Frage herbeizuführen. — Für die
Freiheit hat Reichensperger gekämpft gegen Cäsa-
rismus wie gegen Scheinliberalismus, gegen den
Unmut seiner eignen Wähler so gut wie gegen
Fürstenzorn. Die Freiheit war er aber auch denen
zu bewilligen bereit, die nicht seiner politischen
oder religiösen Gesinnung waren. Schutz der
Minderheit und dem Unterdrückten blieb seine
edelste Sorge. Reichensperger war Monarchist,
aber kein Legitimist. Mit Montalembert bekämpfte
er den Byzantinismus Louis Veuillots und er-
klärte die von demokratischen Einrichtungen „ge-
tragene, d. i. konstitutionelle Monarchie“ für sein
politisches Jdeal. Für die beschworene Verfassung
setzte er seine beste Manneskraft ein. Patriot
vom Scheitel bis zur Sohle, hing er mit seinem
Herzen an einem „größeren Deutschland“, akzep-
tierte aber den Umschwung der Dinge und arbeitete
im neuen Reich freudig mit. Leichter freilich wäre
es ihm und mit ihm Millionen treuer Deutschen
ohne den Kulturkampf geworden, aber trotzdem
förderte er, während die Vorwürfe „Franzosen-
freund“, „Reichsfeind“, „Papstknecht“ auf ihn
niederprasselten, den Bau der deutschen Dome,
wirkte bahnbrechend für Wiederbelebung der natio-
nalen Kunst (Gotik), hob mächtig die kulturelle