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Einigung des deutschen Volks in der Erweckung
des Verständnisses für die Vorfahren und ihre
Werke. — Freilich war er für mechanische Zentrali-
sation und Bureaukratisierung nicht zu haben,
sondern erblickte eine vornehme Aufgabe der
Staatskunst „in der liebevollen Pflege der deut-
schen Stämme und ihrer Eigentümlichkeiten“.
Theobald Ziegler nennt ihn einen „patriotisch ge-
sinnten Preußen“, der aber „freiheitlich ange-
haucht“ gewesen ist.
Als Abgeordneter nahm er es mit seinen
Pflichten genau wie wenige. Niemand hat mit
mehr Recht als er den „Absentismus“ gegeißelt.
Wohleinstudierte Reden hielt er selten; meist
schöpfte er aus dem vollen einer durch weite Reisen
und scharfe Beobachtung erworbenen Welt- und
Menschenkenntnis sowie einer umfassenden viel-
sprachigen Literaturkunde. Er redete nicht mit der
herben Wucht Mallinckrodts, seine Art war eher
verwandt mit derjenigen Windthorsts wegen ihrer
Schlagfertigkeit und der Gemütstiefe des durch-
blitzenden Humors. Mangelte ihm auch die Kunst
der Taktik und Anpassungsfähigkeit, die dem geist-
vollen Hannoveraner zu eigen war, so übertraf er
diesen wiederum in der Vielseitigkeit der Interessen
und in der feinen Witterung für alles, was schön
in der Natur und im Geistesleben. Ein Liebling
der parlamentarischen Körperschaften hatte er wohl
Gegner, aber keinen Feind.
Als Schriftsteller schaffte er meist auf dem
Gebiet der Kunst. Manches erinnert hier an seinen
großen Landsmann Görres. Aber während dieser
seine Tätigkeit beschränkte auf die Lehre in Wort
und Schrift, entfaltete Reichensperger in seinem
mehr aufs Praktische gerichteten Sinn eine um-
fassende organisatorische Arbeit. Weniger
Prinzipienreiter als der zuletzt ganz vereinsamte
Montalembert, hat Reichensperger stets in engster
Fühlung mit den Bedürfnissen der Zeit gestanden.
So stand er an der Wiege der wichtigsten Ein-
richtungen des katholischen Lebens in Deutschland,
und die meisten derselben hat er während eines
halben Jahrhunderts mit hingebendem Opfer-
mut gepflegt (Vinzentiusverein, Borromäusverein,
Dombauverein, Presse, Generalversammlung deut-
scher Katholiken, parlamentarische Fraktionen).—
So wird er im Andenken fortleben: ein überzeugter
Monarchist, liberal im edelsten Sinn, geistvoller
Parlamentarier und Schriftsteller, deutsch bis ins
Mark, fußend auf christlichen Grundsätzen, ein
echter Vertreter des rheinischen Volks, eine liebens-
würdige und kraftvolle Persönlichkeit.
August Reichenspergers zahlreiche literarische
Arbeiten sind aufgeführt in Pastor a. a. O. II.
449 f.
Hier sind zu erwähnen: Beleuchtung der
Schrift: Andeutungen über den Entwurf eines
rheinischen Provinzialgesetzbuchs, von einem Rhein-
länder (1834); De la Prusse (Par. 1842; Mit-
arbeiter); Die Wahlen zum Haus der Abgeordneten
in Preußen, von einem Katholiken (1858); Deutsch-
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl.
Reichensperger, Peter Franz.
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lands nächste Aufgaben, gemeinsam mit Peter R.
(1860); Phrasen u. Schlagwörter (11862, 1872);
Ein Rückblick auf die letzten Sessionen des preuß.
Abgeordnetenhauses, u.: Ein Wort über die deutsche
Verfassungsfrage (1864); Fragebogen zum Haus-
gebrauch für Wähler sowie auch für Abgeordnete,
von X. Quidam (1—81876); Die Literatur betr.
Kunst s. Pastor a. a. O. -
Literatur. Parlamentarische Reden
der Gebrüder August u. Peter Franz R., erschien
anonym zu Regensburg (1858, Herausgeber sind
Paul Jacobi u. Theodor Levi); L. Pastor, A. R.
1808/95 (2 Bde, 1899); F. K. Kraus, A. R., Bei-
lage zur Allgemeinen Zeitung 1900, Nr 200, 201,
224, 225; H. Oncken, Kritik des obigen Buchs von
Pastor in Histor. Zeitschrift, Neue Folge 52, 247 ff.
LGörres.)
Reichensperger, Peter Franz, Ober-
tribunalsrat, Parlamentarier und Schriftsteller,
jüngerer Bruder des Vorigen.
Peter Franz Reichensperger wurde am 28. Mai
1810 zu Koblenz geboren. Er besuchte die Gym-
nasien zu Boppard und Kreuznach, studierte in
Bonn und Heidelberg, wo er sich „zum schwarz-
rot-goldenen Band bekennt“, Rechts= und Staats-
wissenschaften, trat in den Justizdienst, ward 1836
Assessor beim Landgericht Koblenz, später Elber-
feld, 1843 Landgerichtsrat in Koblenz, 1850 Rat
beim Appellationsgerichtshof Köln, 1859 Rat beim
Obertribunal in Berlin, welchem er bis zu dessen
Auflösung (1879) angehörte. Gestorben ist er zu
Berlin am 31. Dez. 1892.
Über den innern Entwicklungsgang Peter
Reichenspergers bis zu seinem 30. Lebensjahr
liegen zuverlässige Mitteilungen nicht vor. Sein
erstes Auftreten zeigt ihn auf den gleichen Bahnen
befindlich, welche sein Bruder August erst 1837 be-
treten hatte. Mit diesem und v. Thimus sammelt
er das Material, welches Vicomte de Failly zu
seiner Broschüre De la Prusse verarbeitete (s. ob.
Sp. 474). Als Assessor gibt er seine der Vertei-
digung heimischer Rechtseinrichtungen gewidmete
Schrift gegen Minister v. Kamptz heraus: „Offent-
lichkeit, Mündlichkeit und Schwurgerichte“. Der
mit August Reichensperger gefertigte Entwurf
einer Petition an den König um eine Wahlreform
(184 7), welche (nach der Absicht Peters) „nur von
Beamten und studierten Leuten unterschrieben“
werden sollte, wurde bereits erwähnt. 1847 läßt
Peter seine groß angelegte Arbeit über „Die
Agrarfrage aus dem Gesichtspunkt der National-
ökonomie, der Politik und des Rechts“ erscheinen.
Hier entwickelt er in Anwendung auf die Agrar-
verfassung den Gedanken de Maistres vom „mirt-
leren Glück“, indem er als das wirtschaftliche Ziel
des Staatenlebens die größtmögliche Teilnahme
aller an den Gaben der Natur bezeichnet. Der
zweite Teil (Politik) befaßt sich unter anderem
in einer für die damalige Zeit überraschend gründ-
lichen Weise mit der sozialen Not der Industrie-
arbeiter, zu deren Linderung Schutzzölle, Abkürzung
der Arbeitszeit, Verbot der Kinderarbeit, Beteili-
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