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Als außerordentliche (durch Schuldenaufnahme
zu deckende) Ausgaben werden in der Regel nur
die Ausgaben für einen Teil der Schiffsneubauten,
die Hafen- und Dockbauten, Festungsneubauten,
Eisenbahnen, größere Telegraphen= und Telephon-
anlagen und die Kosten der Kriege und Aufstände
in den Kolonien betrachtet; es sind jedoch auch
schon größere Fehlbeträge in den ordentlichen
Etats, sowie die Kosten neuer Heeresorganisation
und andere Ausgaben, die eigentlich in den ordent-
lichen Etat gehört hätten, durch Anleihen gedeckt,
also dem außerordentlichen Etat zur Last ge-
schrieben worden, wodurch eine ungesunde Schul-
denvermehrung und eine Verschlechterung des
Reichsfinanzwesens eintrat. Ganz besonders ge-
schah dies unter dem vierten Reichskanzler, Fürsten
Bülow, unter dessen neunjährigem Regime die
Reichsschuldenlast von 2418 517 000 M im Jahr
1900 auf 4 850 000 000 M im Jahr 1909 ange-
schwollen ist, und das Finanzwesen des Reichs
aufs schwerste erschüttert wurde, so daß eine wirt-
schaftliche Krisis schlimmster Art entstand, durch
welche insbesondere dem gewerblichen Mittelstand
schwerer Schaden zugefügt wurde.
Die regelmäßige Steigerung der Reichsaus-
gaben ist zum Teil bedingt durch die Vermehrung
der Bevölkerung, die Entwicklung des Verkehrs,
die Steigerung der Preise aller Lebensbedürfnisse,
zum Teil aber auch durch die zunehmenden Rüstun-
gen der Großstaaten zu Land und zu Wasser und
durch die Entwicklung der militärischen und mari-
timen Technik. Welche ungeheuern Summen
könnten zur Förderung der Kulturaufgaben und
der Wohlfahrt der deutschen Reichsbürger ver-
wendet werden, wennder Rüstungswettlauf zwischen
den Großmächten ein Ende nähme!
Mit der Zunahme der Ausgaben mußte auch
für die notwendigen Deckungsmittel gesorgt wer-
den; es haben sich infolgedessen auch die Ein-
nahmen des Reichs beständig gesteigert.
Diese Steigerung war nur zum kleinen Teil eine
Folge der zunehmenden Bevölkerung und des stei-
genden Verbrauchs und Verkehrs, in der Haupt-
sache erfolgt sie durch Erhöhung und Vermehrung
der Steuern, Zölle und sonstigen Abgaben, sowie
durch vermehrte Leistungen der Bundesstaaten zu
den Reichsbedürfnissen.
Die Bundesstaaten sind nach Art. 70 der Ver-
fassung verpflichtet, insoweit zu den Ausgaben des
Reichs beizusteuern, als dessen eigne Einnahmen
nicht ausreichen. Auf Grund dieser Bestimmung
hatten diese Staaten von 1872 ab alljährlich Bei-
träge zu den Reichsausgaben zuleisten (sog. Matri-
kularbeiträge), anderseits wurde ihnen jedoch auch
ein Teil der an Steuern und Zöllen eingehenden
Beträge überwiesen. Dies geschah im Jahr 1879
zuerstauf Grund dersog. claus ula Francken-
stein, eines Gesetzes, welches bestimmte, daß die
Zolleinnahmen, welche über einen gewissen Betrag
hinausgingen, den Bundesstaaten zufließen sollten;
hierzukamen später noch die Branntweinverbrauchs
Reichsfinanzwesen.
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abgaben und einzelne Stempelsteuern. Die clau-
sula Franckenstein hatte einen doppelten Zweck:
einmal sollten die aus der Einführung des neuen
Zolltarifs im Jahr 1879 sich ergebenden großen
Mehreinnahmen nicht ohne weiteres der Reichs-
kasse verbleiben und dadurch nicht ein neuer Anreiz
zu großen Ausgaben geschaffen werden, anderseits
sollte die Zuschußpflicht der Bundesstaaten zu den
Reichsausgaben auch praktisch aufrecht erhalten
bleiben, um die Bestreitung derselben von einem
auf verfassungsmäßige Weise zustande gekommenen
Reichshaushaltsetatsgesetz abhängig zu machen.
Ohne ein solches Gesetz sind die Bundesstaaten
nicht verpflichtet, Beiträge an das Reich zu leisten,
die Überweisungssteuereinnahmen hätten ihnen
aber gleichwohl zufließen müssen, und das Reich
wäre ohne Zustandekommen eines gesetzlichen Etats
nicht in der Lage gewesen, seine Ausgaben zu decken.
Eine solche gesetz= und verfassungsmäßige Garantie
für das ordnungsmäßige Zustandekommen des
Etats ist um so mehr angebracht, wenn man die
Erfahrungen in Preußen während der 1860er
Jahre in Betracht zieht; auch in späteren Perioden
haben sich schon mehrfach Neigungen gezeigt, ohne
Bundesrat und Reichstag zu regieren und sich über
die erforderliche Bewilligung der hierfür notwen-
digen Gelder einfach hinwegzusetzen. Für die volle
Bedeutung der clausula Franckenstein als kon-
stitutionelle Garantie haben selbst wissenschaftlich
gebildete Männer nicht immer das richtige Ver-
ständnis bewiesen; am meisten darf man aber dar-
über erstaunt sein, daß die Minister der süddeut-
schen Bundesstaaten noch immer nicht begriffen
haben, welches Rechts sie sich durch deren Auf-
hebung begeben würden.
Soweit die Beiträge der Bundesstaaten zu den
Ausgaben des Reichs durch Überweisungen gedeckt
werden, nennt man sie „gedeckte Matrikularbei-
träge“, soweit sie diese Uberweisungen übersteigen,
„ungedeckte Matrikularbeiträge". In den Jahren
1872/78, vor dem Inkrafttreten der clausula
Franckenstein, hatten die Bundesstaaten nur
ungedeckte Beiträge insgesamt in diesen sieben
Jahren 452 500 000 M zu leisten, 1879/82
überstiegen die Beiträge die Überweisungen noch
um insgesamt 107 580 000 M, dagegen emp-
fingen die Bundesstaaten in den Jahren 1883/92
Ülberschüsse über die Matrikularbeiträge hinaus
von insgesamt 485 913000 M, während sie in den
Jahren 1893 und 1894 wieder 32 846 000 M
an ungedeckten Beiträgen an das Reich zu zahlen
hatten.
Diese Verschlechterung der bis dahin für die
Bundesstaaten so günstigen Verhältnisse führte
zu dem Versuch der deutschen Finanzminister, die
gänzliche Befreiung der Staaten von allen Bei-
trägen zu den Ausgaben des Reichs durchzusetzen.
Der Reichstag lehnte diese Versuche wieder-
holt (1894 und 1895) ab. In den nächsten
Jahren besserten sich die Reichseinnahmen wieder,
und den Bundesstaaten flossen abermals Über-