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Es wäre gewiß ein großer Fortschritt, wenn
hinsichtlich der Einnahmequellen zwischen dem
Reich einerseits und den Bundesstaaten und Ge-
meinden anderseits eine strenge Scheidung ein-
träte, wenn die indirekten Steuern in vollem Um-
fang dem Reich, die direkten den Bundesstaaten
und Gemeinden überlassen würden. Alsdann
könnte eine Vereinfachung der bestehenden Reichs-
steuergesetzgebung herbeigeführt, manche lästigen
und mit verhältnismäßig hohen Erhebungskosten
verknüpften Steuern könnten fallen gelassen, dagegen
andere Steuern besser ausgenutzt werden, so daß
mit Ersparnis an Verwaltungskosten und unter
Befriedigung mancher Wünsche der gewerbetreiben-
den Bevölkerung doch die gleichen Reineinnahmen
für das Reich verbleiben würden.
Literatur. Die staats= u. verwaltungsrecht-
liche Seite der Reichsfinanzen behandeln die Lehr-
u. Handbücher des Reichsstaatsrechts, so die Werke
von Laband, Meyer, Schulze, Zorn usw., die
finanzpolitische Seite die Lehr= u. Handbücher der
Finanzwissenschaft, so die Werke von Wagner,
Schönberg, Eheberg, Cohn usw. Vgl. ferner van
der Borght, Die Entwicklung der Reichsfinanzen
(1908, Sammlung Göschen); Speck, Die finanz-
rechtl. Beziehungen zwischen Reich u. Staaten (1908);
R. Müller-Fulda, Einnahmequellen des Deutschen
Reichs u. ihre Entwicklung in den Jahren 1879
bis 1907 (1907); Beusch, Die Reichsfinanzen u.
die Steuerreform #von 1909 (1909).
[R. Müller-Fulda.)
Reichskanzler s. Deutsches Reich (Sp. 1247);
Verantwortung des Reichskanzlers s. Garantien,
staatsrechtliche (Abschnitt VI).
Reichsversicherungsordnung f. So-
zialversicherung.
Rekurs s. Rechtsmittel.
Religion. II. Grundlegung der Religion:
Begriff, Wesen, Innere und äußere Religion, Ur-
sprung; ILI. Verhältnis der Religion zur Gesellschaft
u. zum Staat; Soziale Notwendigkeit der Religion,
Pflichten des Staates, Grenzen der Staatsgewalt.)
Religion im subjektiven Sinn ist das in (innerer
und äußerer) Gottesverehrung sich äußernde per-
sönliche Verhalten des Menschen zu Gott, im
objektiven Verstand dagegen der Inbegriff der
Lehren und Vorschriften über die rechte Art der
innern und äußern Gottesverehrung. Beide Mo-
mente, das subjektive und das objektive, gehören
unzertrennlich zusammen, da ohne die objektive
Erkenntnis und Anerkennung des höchsten Wesens
sowie der absoluten Abhängigkeit des Menschen
von Gott die subjektive Religion selbst einer festen
Grundlage entbehren und nur zu leicht in will-
kürlichen Subjektivismus und gehaltlose Gefühls-
schwärmerei ausarten würde. Der Erörterung
des Verhältnisses der Religion zur Gesellschaft
und zum Staat muß eine kurze wissenschaftliche
Grundlegung der Religion vorausgehen.
I. Grundlegung der Religion. 1. Be-
griffsbestimmung. Von den drei bekannten
Reichskanzler —
etymologischen Ableitungen des Wortes „Reli-
Religion. 504
gion“ von relegere = wiederlesen, ernstlich über-
legen, behandeln (Cicero, De natura deorum 2,
28) oder von religare — verbinden mit Gott
(Laktantius, Inst. 4, 28) und reeligere — wieder
erwählen, nachdem Gott durch die Sünde verlassen
worden war (Augustinus, De civ. Dei 10, 32),
kommen philologisch nur die zwei ersten in Be-
tracht, und da Laktantius bereits vom christlichen
Gesichtspunkt ausgeht, so ist die erste von Cicero
stammende Ableitung um so mehr vorzuziehen,
als die Stammwurzel 16g (vogl. V#% legere,
legen) ursprünglich „sammeln“, relegere also
„wiederholt, sorgfältig sammeln“ bedeutet und die
Religion in der Tat eine gewissenhafte „Samm-
lung“ aller auf die höchste und letzte Aufgabe des
Menschen gerichteten Vorstellungen und Bestre-
bungen voraussetzt. Wenn aber Cicero das Wort
nicht auf die Gotteserkenntnis, sondern auf den
Kult, die Zeremonien und auf die Sorge für die
Götter bezieht, so kann religio ursprünglich nur
die Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Ehrfurcht bei der
durch ein peinliches Ritual vorgeschriebenen Götter-
verehrung bezeichnet haben und ist dann zum stän-
digen Ausdruck für die in der Anbetung und im
Opfer sich kundgebende Außerung der religiösen
Gesinnung, der Religiosität, geworden. Weil man
hierin aber die Erfüllung einer wichtigen Pflicht
erkannte, so wurde die Religion als ein Akt der
Gerechtigkeit und Heiligkeit, folglich als eine
hohe Tugend betrachtet (Aristoteles). Die Hei-
lige Schrift bestätigt die praktische Bedeutung
der Religion, indem sie den Dienst Gottes, die
Frömmigkeit, den Gehorsam gegen Gott als Re-
aigion hinstellt. Die lateinische Übersetzung gibt
das Wort JYarpei mit religio, caerimoniae,
lex, mos sacrorum wieder, und das Neue Testa-
ment hat das Wort herübergenommen. Noch be-
stimmter geht auf die äußere Gottesverehrung
Donszeia, das mitcultura oderreligio (Apg. 26, 5.
Kol. 2, 18. Jak. 1, 26 27) übersetzt wird. Die
Bäter behalten das Wort bei, wechseln aber mit
„Frömmigkeit"; bei den Platonikern hat „Gottes-
dienst“ (Plato: Dienst der Götter) Anklang ge-
funden. Ist durch diese Bezeichnung mehr die
äußere Religionsübung und die gesetzmäßige Ver-
pflichtung gegen Gott, wie sie dem Alten Testa-
ment und dem rechtlichen und praktischen Sinn
der Römer entsprach, zum Ausdruck gekommen,
so hat es christlicherseits nicht an Versuchen ge-
fehlt, entgegen der antiken Anschauung auch das
intellektuelle und ethische Moment in den Begriff
der Religion einzubeziehen. So hat schon Augu-
stinus die Frömmigkeit und die Verehrung in
Glauben, Hoffnung und Liebe verbunden und die
Religion als Verehrung und Erkenntnis Gottes
erklärt. Die hieraus abgeleitete augustinische De-
finition: Religio estmodus Deum cognoscendi
et colendi (De utilit. credendi 12, 27) hat sich
bis in die neueste Zeit behauptet. Zwar hat auch
die Scholastik die Religion mit Aristoteles unter
die Tugenden eingereiht, indem sie dieselbe als