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Annex zur Gerechtigkeit auf den Gott schuldigen
Kult bezog und als besondere Tugendalte der Re-
ligion das Gebet, die Opfer, das Gelübde und
den Eid betrachtete (vgl. Pesch, Prael. dogm. IX
[ 1902] 139 s), aber sie hat dabei die Erkennt-
nis Gottes als selbstverständlich vorausgesetzt. In
der neueren Zeit wurde es üblich, die Religion
mehr als ein Gut des innern Menschen nach Ver-
stand, Willen und Gefühl aufzufassen und damit
zugleich die wirksame Betätigung aller dieser Ver-
mögen zu verbinden. Deshalb definiert man die
Religion als das persönliche Verhältnis des
Gesamtmenschen zu Gott, durch wel-
ches der Mensch nach Erkenntnis, Willen
und Gefühl in seinem ganzen Leben be-
stimmt wird.
2. Wesen der Neligion. Zum Wesen
der subjektiven Religion ist also ein Dreifaches
notwendig: die Tätigkeit des Verstands, des
Willens und des Gefühls. Nur wo alle drei
Tätigkeiten zur Einheit verbunden sind, kann von
echter Religion die Rede sein. Sobald eines der
drei Momente unter Hintansetzung der übrigen
für sich allein zum Wesen der Religion gestempelt
wird, fälscht man ihren Begriff, wie denn die
Ausschaltung der religiösen Erkenntnis zum ein-
seitigen Moralismus Kants oder zur verschwom-
menen Gefühlsreligion Schleiermachers führen
muß, während durch die ausschließliche Betonung
des Verstands, wie im altindischen Vedantasystem,
im häretischen Gnostizismus und in der Solafides-
lehre Luthers, dem Willen jede Schwung= und
Triebkraft zum sittlich-religiösen Handeln genom-
men wird. Das Gefühl allein ohne Erkennen und
Wollen endlich ist blind und läßt es weder zur
klaren Einsicht in das Woher und Wohin des
Menschen, dieser Grundlage aller und jeder Re-
ligion, noch zu einer entscheidenden Willensrich-
tung in unserem religiösen Verhalten kommen.
Ruht zwar das eigentliche Wesen der (subjektiven)
Religion primär im Willen, der sich und den
ganzen Menschen zu Gott als seinem Urquell und
Endziel bekennt, so bildet doch die wesentlichste
Voraussetzung derselben unser Verstand, welcher
vor allem unsere absolute Abhängigkeit von Gott
und Hinordnung zu Gott erkennen und in de-
mütigem Glauben sich der höchsten Wahrheit
unterwerfen muß, falls diese auf übernatürliche
Weise sich der Menschheit zu offenbaren geruht
hat. Weil das Gefühl oder Gemüt wohl schwer-
lich als selbständiges drittes Grundvermögen der
Seele gelten kann, so wird dasselbe nicht so sehr
zum Wesen als zur Integrität der religiösen Be-
tätigung gefordert, insofern dasselbe den religiösen
Ausschwung anregt, erleichtert und steigert, im
Interesse der Religion zu den größten Kraftan-
strengungen und Opfern begeistert und so als ver-
stärkende Macht von unberechenbarer Wirkung
ganz in den Dienst der Religion tritt (vgl. Jos.
Jungmann 8. J., Das Gemüt und das Gefühls-
vermögen der neueren Psychologie (2 1885.).
Religion.
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Tatsächlich beginnt die Religion im praktischen
Leben mit der äußern Übung, da jedes Kind in
einer religiösen Umgebung aufwächst und erzogen
wird oder doch erzogen werden sollte. Da die alten
Völker keine Dogmatik, keine Predigt, keine Kate-
chese und keinen Religionsunterricht kannten, so
war die bloß praktische Einführung in die Religion
selbstverständlich. Der Glaube ist hier wie dort
naturgemäße Voraussetzung, weil das ganze an-
tike Religionswesen auf die Götter oder auf Gott
zurückgeführt wird und das hohe Alter der Re-
ligion eine unaussprechliche Weihe verleiht. Auch
die Offenbarungsreligion, mit welcher die Heilige
Schrift beginnt, fordert den Glauben als absolute
Unterwerfung des Verstands unter die unfehlbare
Autorität Gottes. Da aber der Glaube, weil er
vernünftig sein muß, auf gewissen Vernunftwahr-
heiten (praeambula idel) als seiner Grundlage
sich aufbaut und so die Vernunft wieder voraus-
setzt, so ist damit von selbst die Möglichkeit und
Notwendigkeit gegeben, über die Voraussetzungen
und den Inhalt des Glaubens zu reflektieren. Dies
ist Aufgabe der Philosophie, und ihr unrechter
Gebrauch hat nicht nur bei Griechen und Römern
zum religiösen Skeptizismus geführt, sondern auch
in der jüdischen und christlichen Religion den über-
natürlichen Charakter geschwächt. Seit der Zeit
des Deismus im 17. und 18. Jahrh. wurde die
Vernunft zum einzigen Maßstab der Religion ge-
macht und eine „natürliche Religion“ oder
Vernunftreligion konstruiert, welche nur die Trias:
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, umfaßt und so
alt sein soll als das Menschengeschlecht, weil sie
mit der menschlichen Vernunft selbst gegeben sei.
Der Rationalismus der deutschen Aufklärung unter
Lessing und Kant hat diese Religion willig über-
nommen, aber auch in starken Mißkredit gebracht.
Katholischerseits wird bis heute die natürliche Re-
ligion mit Recht verteidigt, weil sie der stets fest-
gehaltenen und von der Kirche bestätigten An-
schauung entspricht, daß die Vernunft imstande ist,
das Dasein Gottes, die Geistigkeit der Seele und
die sittliche Freiheit des Menschen zu beweisen.
Doch ist zu beachten, daß die alten Theologen für
diese Vernunfterkenntnis nicht den Namen Reli-
gion, sondern seit Hugo von St-Victor (gest. um
1141) die Bezeichnung „natürliches Gesetz“, seit
Raimund von Sabunde (gest. 1437) die Bezeich-
nung „natürliche Theologie“ gebrauchten, wofür
die neuere Apologetik den von Leibniz eingeführten
Namen „Theodicee“ einsetzt. Aber es leuchtet un-
chwer ein, daß auch die natürliche Religion sich
nicht in bloße Naturtheologie oder Theodicee auf-
lösen läßt, da jede Theologie notwendig die Re-
ligion als ihr Prius voraussetzt und unmittelbar
aus ihr geboren wird, nicht aber umgekehrt. In
der Geschichte der Menschheit hat es überhaupt
niemals eine reine Naturreligion, mit welcher der
Deismus sich begnügen möchte, gegeben; denn
schon die älteste Religion der ersten Menschen be-
ruhte nicht auf dem religiösen Wissen, sondern auf
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