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auch die körperliche Anbetung Gottes, die als
spontaner Ausdruck der innern Ergriffenheit in
Worten, Gebärden, Händefaltung und Kniebeu-
gung sich äußert, bleibt echte „Anbetung im Geist
und in der Wahrheit“ (Joh. 4, 23), weil aus dem
sinnlichen Symbol im Grund nur das Geistige
ausstrahlt und wegen der kausalen Wechselbezie-
hung durch spontane Rückwirkung erneute Ver-
stärkung und Steigerung erfährt. Da ferner jede
gewaltsame Zurückdrängung des Triebs zur An-
betung jedenfalls der Natur des aus Geistseele und
Leib bestehenden Menschen widerspricht, so wird
der bloß innere Gottesdienst ohne äußere Betäti-
gung von selbst unnatürlich und unecht, also auch
unwahr (bvgl. Thomas, S. theol. 2, 2, q. 84,
a. 2 ad 1: Adoratio corporalis in spiritu fit,
inquantum a spirituali devotione procedit et
ad eam ordinatur). Dazu kommt, daß der ganze
Mensch mit Leib und Seele als Eigentum Gott
seinem Herrn zugehört und folglich ihm auch dem
Leibe nach Verehrung schuldet, wie denn nicht nur
die Seele, sondern auch der Körper von und für
Gott geschaffen ist. Das erschütternde Bewußt-
sein von Sünde und Schuld, die tiefe Bedrängnis
in seelischer und leiblicher Not, das erhebende Ge-
fühl der Gebetserhörung, der unwiderstehliche
Drang nach Anbetung —: alles dies predigt die
Abhängigkeit und Hilflosigkeit auch des somatischen
Wesensbestandteils des Menschen und bahnt sich
mit fast explosiver Gewalt einen Weg in den Ge-
beten und Opfern, die der Sühne, Bitte, Dank-
sagung und Anbetung entsprechen. Bedenkt man
endlich, daß die Menschheit als Gattung nichts
anderes als einen großen Gottesstaat, eine zu-
sammengehörige Familie bildet und als solche auch
zur öffentlichen Betätigung der Religion verpflich-
tet ist, so erhellt, daß die irdische Gottesverehrung
ohne sichtbare Kultformen schlechterdings undenk-
bar ist. Wie wäre auch eine Religionswissenschaft,
möge sie als Religionsgeschichte oder als Reli-
gionsphilosophie auftreten, innerlich möglich, wenn
die Menschen ihre religiöse Gesinnung behutsam
im Herzenskämmerlein unter Verschluß hielten,
statt sie kräftig nach außen hervortreten zu lassen?
Die Geschichte kennt keine Religion ohne äußern
Kultus, und die Geschichte der Religionen ist im
Grund die Geschichte des Menschengeschlechts.
Wie sehr die absurde Forderung einer mög-
lichsten Vergeistigung der Religion und ihrer Be-
schränkung auf rein geistige Akte mit den Gesetzen
der Psychophysik in Widerspruch gerät, das zeigt
schlagend das Verhalten jener Religionsphilo-
sophen, welche den Begriff des persönlichen Gottes
verwerfen und an seine Stelle in materialistisch-
pantheistischem Sinn das unpersönliche „Abso-
lute“ setzen. Vermögen sie vielleicht ihre inbrün-
stige Verehrung für das Absolute still für sich zu
behalten? Nein; denn auch ihre Religiosität muß
sich in frommen Schauern und weltentrückenden
Verzückungen entladen, wenn sie vor dem Phan-
tom des „Unerkennbaren“ (Littré, Herbert Spen-
Religion. 510
cer), dem Fetisch des „All-Einen“ (Spinoza,
Hegel), dem Idol des „Weltalls“ (D. Fr.
Strauß), dem Götzenbild der „Humanität"
(A. Comte, Stuart Mill), der Göttin der „sitt-
lichen Weltordnung“ (Fichte), dem Götzen der
„mechanischen Weltkausalität“ (E. Häckel) an-
betend in die Knie sinken.
Deshalb ist auch nur die äußere Gottesver-
ehrung ein staatsrechtlicher Begriff. Die
rein geistige, im Innern verschlossene Religion ist
wegen ihrer Ungreifbarkeit weder vom staatlichen
Arm erzwingbar noch des eigentlichen Rechts-
schutzes fähig. Die äußere Rechtsordnung kann
nur die äußern Formen der Religionsübung in
den Bereich ihrer gesetzgebenden Gewalt ziehen,
weil sie keinerlei Mittel zur Verfügung hat, um
befehlend, verbietend oder strafend in das seelische
Innere der Staatsbürger einzudringen. Nament-
lich gilt dies von den zwei sog. „innern Akten“
der Religion, d. i. der Andacht und dem mentalen
Gebet, von denen dieses als Verstandstätigkeit
und jene als Willensverfassung sich naturgemäß
jedem Einbruchsversuch der Staatsgewalt entzieht.
Dagegen können die sog. „äußern Akte“ der Re-
ligion, wie körperliche Anbetung, Opfer, Obla-
tionen (Beisteuern zum Gottesdienst), Gelübde,
Sakramentenempfang (als Kulthandlung), Eid
und Anrufung des Namens Gottes, unter Um-
ständen auch zur Staatssache werden, ja sie müssen
es, wenn schwere Religionsverbrechen, wie Gottes-
lästerung, Kirchenschändung, Meineid usw., die
Sicherheit und Ruhe der öffentlichen Ordnung
stören. Von ganz besonderer Wichtigkeit für den
Bestand des Staats ist der Eid, weil er in un-
zähligen Fällen das einzige Rechtsmittel darstellt,
um in wichtigen Angelegenheiten die verborgene
Wahrheit ans Licht zu ziehen oder das Gewissen
der Beamten zu unentwegter Treue gegen den
Staat zu verpflichten (Verfassungseid).
4. Ursprung der Religion. Kaum eine
zweite Tatsache ist heute so sichergestellt als die
zeitliche und räumliche Allgemeinheit jener
menschlichen Erscheinung, die wir Religion nennen.
Soweit man die Geschichte der Menschheit auch
bis ins graueste Altertum hinunter verfolgen mag,
überall gewahren wir, daß die Völker im Sonnen-
schein der Religion lebten und aus ihr ihre natio-
nale, staatliche und sittliche Eigenart schöpften.
Die moderne Völkerkunde läßt ebensowenig einen
Zweifel daran übrig, daß selbst die unzivilisier-
testen „Wilden“ aus den Trümmern ihrer bessern
Vergangenheit sich wenigstens noch eine Spur von
Religion bewahrt haben. Ein völlig religions-
loser Volksstamm ist bis heute noch nicht gefunden
worden. «
Da nach dem Satz vom hinreichenden Grund
jeder allgemeinen Wirkung eine ebenso allgemeine
Ursache zugrunde liegen muß, so machen sich jene
Religionsphilosophen die Sache zu leicht, welche
in der Religion eine mehr oder minder zufällige
Erscheinung erblicken und zur Erklärung auf eine