Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Reihe von gänzlich unzureichenden, partikulären 
Ursachen zurückgreifen. Wer mit Feuerbach und 
Nietzsche die Religion für eine „Krankheit des 
Menschengeschlechts“ ansieht, kann allerdings nicht 
ernst genommen werden; denn er gleicht eher einem 
Possenreißer als einem Philosophen. Daß der 
Betrug der Gesetzgeber, Könige und Priester 
(Sophisten, Enzyklopädisten) oder die Furcht vor 
gewaltigen Naturereignissen (Demokrit, Epikur, 
Hume, Hobbes) die Erfinderin und Mutter der 
Religion gewesen sein soll, gehört zu jenen Ammen- 
märchen, welche die radikale moderne Religions- 
forschung selbst als eine psychologische Unmöglich- 
keit zurückweist. Wie käme es auch, daß die Re- 
ligion noch nicht vom Erdboden ganz und gar 
verschwunden ist, trotzdem die aufgeklärtesten 
Geister seit Jahrtausenden an der Aufdeckung des 
angeblichen Betrugs unermüdet arbeiten und die 
fortgeschrittene Naturwissenschaft je länger je mehr 
die klare Einsicht in die treibenden Ursachen der 
schrecklichen Gewitter, Erdbeben u. dgl. bei Ge- 
bildeten wie Ungebildeten vermittelt? Wie kommt 
es insbesondere, daß sogar die Gesetzgeber und 
Priester, die Naturforscher und Philosophen selbst 
an der Religion festhalten, die sie in ihrer Schlau- 
heit erfunden und dem dummen Volk aufgehalst 
haben sollen? Noch nicht ganz überwunden ist 
die verwandte, nicht weniger seichte Vorstellung, 
daß der „Kausalitätsdrang des Verstands“ (Scho- 
penhauer) oder das „Verlangen nach Metaphysik“ 
(Liebmann) der Vortäuschung eines höchsten Ur- 
wesens, von dem alles abhängt, die Wege gebahnt 
habe, insofern für das große Gebiet des Unerkenn= 
baren jenseits der Grenzen der Wissenschaft eine 
unbekannte Ursache ersonnen wurde, die nichts 
anderes als eine „große Phantasmagorie des 
menschlichen Geistes“ ist (Jodl). Aber diese Erklä- 
rung bestätigt nur die Berechtigung der Religion, 
statt sie zu zerstören. Denn das Kausalitätsbedürf- 
nis ist im Menschen eben zu stark, als daß der 
Erkenntnisbereich des Verstands sich innerhalb 
der Grenzpfähle der sinnlichen Erfahrungswelt 
glatt einzäunen und der Schluß von der Schöp- 
fung auf den Schöpfer sich als unberechtigt ver- 
bieten ließe. Wenn also das Dasein Gottes nicht 
auf elender Selbsttäuschung beruht, dann 
auch nicht die aus dem Gottesgedanken hervor- 
quellende Religion. Wäre letztere eine bloße 
Illusion, wenn auch eine notwendige und nütz- 
liche, so gliche die Erde einem großen Irrenhaus 
voller Wahnvorstellungen und die ganze Kultur 
der Menschheit wäre auf Flugsand aufgebaut. 
Auch läßt diese luftige Hypothese die historische 
Tatsache unberücksichtigt, daß schon vor jeder Re- 
flexrion des Verstands die Religion vorhanden 
war; denn diese ist Objekt, nicht Produkt des 
Denkens. 
Wohl am verbreitetsten sind in atheistischen Ge- 
lehrtenkreisen die aus dem Darwinismus ent- 
springenden Anschauungen über den Ursprung und 
die Entwicklung der Religion. Nach Charles Dar- 
Religion. 
  
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win soll schon der dankbare, unterwürfige Aufblick 
des Hundes zu seinem Herrn die ersten Anfänge 
der Religion offenbaren. Im tierischen Instinkt 
grundgelegt, arbeitet das religiöse Gefühl ver- 
mittels der durch Träume angeregten Phantasie 
sich allmählich hindurch bis zur Vorstellung einer 
imaginären Geisterwelt, die bei fortschreitender 
Kultur durch Zwischenstufen hindurch bis zur 
Höhe des Einen Gottes emporführte. Ein voll- 
ständiges Entwicklungsschema hat Lubbock auf- 
gestellt, das uns vom religionslosen Urmenschen 
über den Fetischismus, Totemismus (Tabuis- 
mus), Schamanismus (Dämonismus) hinweg zum 
naturalistischen Polytheismus hinaufgeleitet, aus 
dem sodann der Monotheismus als höchste Form 
sich herauszüchtete. Diese Götterleiter erinnert zu 
stark an die berüchtigten Stammbäume Häckels, 
als daß sie nicht Mißtrauen einflößen sollte. Wie 
geschickt ist doch das Nebeneinander in ein Nach- 
und Auseinander verwandelt! Hat wirklich auch 
nur ein einziger Volksstamm der Erde den vor- 
gezeichneten Entwicklungsprozeß durchlaufen 2 Und 
wenn der Atheismus die tiefste Stufe der Religion 
oder besser Religionslosigkeit bezeichnet, welches 
Armutszeugnis stellen dann die Gottesleugner 
ihrer eignen Intelligenz aus? Wo der Fehler im 
Schema liegt, ist leicht zu erkennen. Es ist die 
unbewiesene und oft widerlegte Annahme, daß der 
Mensch nach seinem ganzen (auch geistigen) Wesen 
nichts anderes sei als ein potenziertes Tier, eine 
gezähmte „blonde Bestie“, das hochgezüchtete Pro- 
dukt unbegrenzter Entwicklungsmöglichkeiten. 
Allein so lange der Mensch vom Tier sich nicht 
nur graduell, sondern wesentlich unterscheidet, 
ebenso lange wird kein Saltomortale vom tieri- 
schen Instinkt zum religiösen Trieb und zur 
Gottesidee hinüberführen, die dem Hund oder 
Affen so fremd bleibt wie Astronomie oder Meta- 
physik. Vollständig aus der Luft gegriffen ist auch 
die willkürliche Voraussetzung, als ob der Ur- 
mensch ein religionsloses Halbtier und der heu- 
tige „Wilde“ ein getreues Konterfei des Ur- 
menschen darstellt. Wie der Archäologie immer 
mehr der Nachweis glückt, daß der prähistorische 
Mensch ebensowenig als der historische aller reli- 
giösen Begriffe und Bräuche bar gewesen ist, so 
erhebt auch die Ethnologie lebhaften Einspruch 
gegen den Versuch, die wilden Naturvölker der 
Gegenwart als religionslos zu verschreien. Weil 
also der Unglaube weder aus innern noch aus 
äußern Gründen vom Ursprung der Religion eine 
zureichende Erklärung zu liefern vermag, so be- 
hauptet die christliche Lehre siegreich das Feld, daß 
die Religion mit dem Wesen, Ursprung und Zweck 
des Menschen selbst innerlich verknüpft ist. Daß 
der für die Religion geschaffene Mensch ohne 
Gottesglauben weder ein vollkommener Mensch 
noch ein zuverlässiger Staatsbürger sein kann, ist 
eine allgemeine Wahrheit, von der auch der Staats- 
mann und Politiker nicht tief genug durchdrungen 
werden kann.
	        
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