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II. Verhältnis der Beligion zur Gesell-
schaft und zum Staak. Da die menschliche Ge-
sellschaft ohne religiöse Grundlage weder bestehen
noch gedeihen kann, so hat der Staat die Pflicht,
die Religion nach Kräften zu fördern und zu
schützen. Er hat aber kein Recht, seinen Unter-
tanen eine bestimmte Religion vorzuschreiben und
deren Ausübung durch staatliche Maßnahmen zu
erzwingen. Vielmehr bleibt dem modernen Rechts-
staat keine andere Wahl, als den Staatsbürgern
volle Religionsfreiheit zu gewähren.
1. Soziale Notwendigkeit der Reli-
gion. Die Religion ist eine wesentliche Grund-
lage der Ordnung für die Gemeinschaft, die ihrer-
seits wieder zur Belebung und Förderung der
Religion dient. Auf Autorität und Gehorsam,
Recht und Gerechtigkeit baut sich als auf ebenso
vielen Grundpfeilern das ganze Staatswesen auf.
Soll aber nicht die Autorität in Despotismus, der
Gehorsam in Auflehnung, das Recht in Zwang
und die Gerechtigkeit in Willkür umschlagen, so
müssen Regierende und Regierte von Verantwort-
lichkeitsgefühl, Pflichttreue, Rechts= und Gerech-
tigkeitssinn erfüllt sein, lauter Begriffe, die inner-
lich mit der Religion schon zusammenhängen. Auf
alle Fälle schafft der Glaube an Gott, welcher die
Behörden wie die Untertanen zur Verantwortung
vor seinen strengen Richterstuhl zieht, ein gewal-
tiges Bollwerk gegen Umsturz und Unordnung
und läßt allen staatserhaltenden Kräften die kräf-
tigste Förderung angedeihen. Dazu kommt ein
anderes. Als persönliches Verhältnis des Men-
schen zu Gott ist die Religion zunächst zwar
Privatsache; denn es ist Aufgabe des einzelnen,
sein letztes Ziel selbst zu wählen und die geeigneten
Mittel zur Erreichung desselben zu ergreifen.
Aber der Mensch ist nicht nur für sich, sondern
auch für die Gesellschaft da. Als soziales Wesen
ist er durch die Geburt in die Familie, die Gesell-
schaft, den Staat hineingestellt und durch diese
Verhältnisse bestimmt. Hat aber die Religion im
Herd der Familie ihren Mittelpunkt, und ist die
Familie die Grundlage der Gesellschaft und des
Staats, so muß auch die Religion gesellschafts-
bildend, das Fundament des öffentlichen wie des
Privatlebens sein. Es ist dem einzelnen gewiß
nicht möglich, Religion und Leben zu trennen.
Die einzelnen machen aber die Gesellschaft aus,
auch in ihr sind Religion und Welt nicht zu
trennen. Deshalb steht auch die bürgerliche Ge-
sellschaft oder der Staat im selben wesentlichen
Abhängigkeitsverhältnis zu Gott wie das Indi-
viduum. Denn weil der Staat von Gott gewollt
und mit Hoheitsrechten ausgestattet ist, so ver-
dankt er in letzter Linie Gott selbst seinen Ur-
sprung, wie er auch in ihm sein letztes Ziel und
Ende suchen muß und folglich die zeitlichen Inter-
essen nicht prinzipiell über die ewigen stellen, ganz
gewiß aber diesen letzteren nicht direkt entgegen-
wirken darf. Bei der feierlichen Verwerfung des
gewaltsamen Konkordatsbruchs durch die franzö-
Staatslegikon. IV. 8. u. 4. Aufl.
Religion.
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sische Republik im Jahr 1906 beklagte Pius X.
als erstes und größtes Unrecht, daß Frankreich
„Gott feierlich abschwört, indem es von vornherein
erklärt, daß die Republik sich jeden religiösen Kultes
entäußere“ (Enzyklika Vehementer nos vom
11. Febr. 1906 bei Denzinger-Bannwart, Enchi-
ricion #1019081 n. 1995). Die soziale Notwendig-
keit der Religion bestätigt aber auch die große Lehr-
meisterin der Geschichte. Die Religion erwies sich
immer und überall als die Grundlage aller Kultur,
als der wirksamste Faktor im Leben der Völker und
Staaten. Die Religionsgeschichte ist der Schlüssel
für das Verständnis der Völker, ja des ganzen Men-
schengeschlechts. Der Vorwurf, daß kluge Staats-
männer die Religion erfunden hätten, ist nur dar-
aus erklärlich, daß im Altertum Religion und
Staat aufs engste verbunden waren. Die Priester
waren Beamte des Staats, der Gottesdienst eine
Staatsangelegenheit. Moses, Zoroaster, Numa
haben ihre Gesetze im Namen Gottes gegeben,
Solon und Lykurg ihrer Staatsordnung die Re-
ligion zu Grunde gelegt, weil nur durch den
höheren Willen Gottes die gegenseitigen Rechte
und Pflichten der Gesellschaft und die sittliche
Unterordnung unter die Gewalt eine sichere Sank-
tion erhalten können (s. Syllabus 56, 57). Eine
Leugnung der staatlich anerkannten Götter oder
eine Weigerung der Teilnahme an den Opfern
galt als Staatsverbrechen. Die ganze staatliche
Ordnung samt ihren Trägern wurde auf den
Willen Gottes zurückgeführt, so daß der Gehorsam
gegen sie als Gehorsam gegen die Götter galt.
Auf diesen Grundsatz verweist der Apostel Paulus
die römischen Christen, wenn er sie zum Gehorsam
auffordert, weil es keine Gewalt gibt außer von
Gott und die bestehenden Gewalten von Gott
geordnet sind (Röm. 13, 1), ohne aber damit die
Religion und ihre Ausübung von der Zustimmung
des Staats abhängig machen zu wollen; sonst
wäre die Mission der Apostel und ihrer Nachfolger
gegen den Willen ihrer Verfolger unerklärlich
(Matth. 22, 21. Apg. 4, 19). Ist aber nach der
Lehre der christlichen Religion Gott der Urheber
sowohl der natürlichen als der übernatürlichen
Ordnung, so ist derselbe göttliche Wille für den
einzelnen und die Gemeinschaft maßgebend. Der
einzelne und die Gesellschaft kann auf der Bahn
des Guten und Wahren nur verharren und fort-
schreiten, wenn die höhere Leitung Wahrheit und
Kraft von oben spendet.
Wie der einzelne zum Wohl des Ganzen bei-
trägt, so empfängt er vom Ganzen wieder Auf-
munterung und Mut. Das hehre Bewußtsein,
mit Gleichgesinnten nach demselben Ziel zu streben,
für dieselben Güter zu kämpfen und zu leiden,
weckt in edlem Wettstreit die Kräfte, das Beispiel
mutiger Vorkämpfer ermuntert zur begeisterten
Nachahmung, und der gemeinsame Gottesdienst
entzündet immer aufs neue das Feuer der Reli-
gion. Diese innige Durchdringung aller privaten
und öffentlichen Verhältnisse durch die Religion
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