Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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verlieh den alten Völkern trotz ihrer religiösen 
Verirrungen geistige Kraft und Ausdauer; sie 
bildet bei den verschiedenartigen Völkern des 
Islams noch heute das einigende und erhaltende 
Band. Sie war es aber ganz besonders, welche 
dem kleinen jüdischen Volk mit seiner Theokratie 
eine weit über die Bedeutung des unscheinbaren 
Palästina hinausreichende Stellung in der Gesell- 
schaft verschaffte, welche es dem Christentum er- 
möglichte, mit seiner übernatürlichen Kraft die 
Gesellschaft des griechisch-römischen Reichs sittlich 
umzuwandeln und im mittelalterlichen Gemein- 
wesen das Ideal der Verbindung des Natürlichen 
mit dem Ubernatürlichen anzustreben. Durch die 
Renaissance und den Humanismus wurde der 
Bund leider gelockert, durch die Kämpfe zwischen 
Kirche und Staat die Eintracht zerstört, durch die 
Reformation die werktätige Ausübung der Reli- 
gion beschränkt und das Geistliche vom Weltlichen 
getrennt, durch den Pietismus die religiöse Ubung 
zur Privatangelegenheit gemacht. Die moderne 
Weltanschauung vollends hat diese Trennung bis 
zum Extrem verfolgt, indem sie die Religion 
gänzlich aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, 
eine Gesellschaft ohne Religion zu bilden und eine 
unabhängige Moral ohne Gott, Seele und Un- 
sterblichkeit zu gründen sucht. Die Religion gilt 
höchstens noch für die niedere Menge und als 
Gegenstand unbestimmter Gefühle. Obschon die 
Sozialdemokratie den Grundsatz predigt: „Reli- 
gion ist Privatsache“, so ist doch auch ihr die 
Religionslosigkeit und der Atheismus nicht Neben- 
sache. So sind Religiosität und Sittlichkeit, 
Glauben und Denken, Recht und Moral, Staat 
und Kirche, Familie und Erziehung auseinander- 
gerissen. Moral, Kunst, Wissenschaft und For- 
schung sind frei, d. h. nicht bloß konfessionslos, 
sondern religionslos. Die Religion wird der 
Verachtung preisgegeben und die Frreligiosität 
mit Stolz zur Schau getragen (vgl. die Enzyklika 
Pius' IX. vom 8. Dez. 1864 gegen das „absurde 
Prinzip des sog. Naturalismus“, wonach es das 
Wohl der öffentlichen Gesellschaft und der bürger- 
liche Fortschritt durchaus fordern, daß in Ver- 
fassung und Regierung keine Rücksicht auf die 
Religion genommen oder wenigstens kein Unter- 
schied zwischen wahrer und falschen Religionen ge- 
macht werde). Die Folgen für die Gesellschaft 
können allerdings nicht ausbleiben, sie haben sich 
auch bereits in der Korruption der öffentlichen und 
privaten Moral, in der Verwilderung der Massen 
und in der Lösung der sozialen Bande gezeigt. 
Und dennoch kann man um die Religion nicht 
herumkommen. Selbst die Ungläubigen zeigen 
durch ihre fortwährenden Angriffe, wie schwer es 
ist, von ihr los zu kommen und gegen sie Ruhe 
zu erhalten (Leos XIII. Enzyklika über die christ- 
liche Staatsordnung, vom 1. Nov. 1885). 
2. Pflichten des Staats. Je notwen- 
diger die Religion für die Gesellschaft ist, um so 
mehr ist es Pflicht des Staats, daß er selbst 
Religion. 
  
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die Religion zum Prinzip seiner Regierungsweis- 
heit mache und die Religion fördere. Ein reli- 
gionsloser Staat widerspricht der entscheidenden 
Stellung der Religion im Denken und Handeln 
der Menschen sowie in der Geschichte der Völker 
und Staaten. Da außerdem die Religion älter 
ist als der Staat, so kann dieser sie weder schaffen 
noch abschaffen, sondern nur in der öffentlichen 
Feier ordnen und weiterbilden. Seit der Be- 
gründung des Christentums hat allerdings der 
Staat seine Doppelnatur als bürgerliche und zu- 
gleich religiöse Gesellschaft aufgeben müssen, in- 
dem er nach dem Willen Christi das religiöse 
Gebiet der ad hoc gestifteten Kirche fortan allein 
überläßt. Zu ihrer alleinigen Kompetenz gehört 
daher die Predigt des Evangeliums, die Veran- 
staltung des Gottesdienstes, die Darbringung des 
Meßopfers, die Verwaltung der Sakramente, die 
Aussendung der Glaubensboten usw. Hätte es 
im Lauf der Jahrhunderte keine Kirchenspaltungen 
gegeben, wie das photianische Schisma (869) und 
die abendländische Glaubensspaltung (1517), so 
läge für den Staat eine klare Situation vor, da 
er als katholische Gesellschaft natürlich keiner 
andern Religion als der allein herrschenden seinen 
Schutz angedeihen lassen könnte. Und noch heute 
wird er dort, wo eine religiös geschlossene Ma- 
jorität in seinem Schoß sitzt, den Katholizismus 
als „Staatsreligion“ verfassungsmäßig gelten 
lassen, wie z. B. in Spanien und Italien. Gegen 
die grundlose Preisgabe dieser ihrer privilegierten 
Stellung in katholischen Ländern hat sich die 
Kirche in begreiflichem Interesse gewehrt (val. 
Syllabus 77). Oder haben protestantische Länder, 
wie z. B. England, vielleicht anders gehandelt? 
Allein in der Zeit seit dem Erlaß des Syllabus 
durch Pius IX. (1864) haben sich die Zeitverhält- 
nisse so gründlich geändert, daß die katholischen 
wie die protestantischen Länder heute zur Ge- 
währung voller Religionsfreiheit gegenüber den 
Andersgläubigen, welche sich friedlich in ihren 
Grenzen niederlassen, gezwungen sind. Obwohl 
die Kirche nach wie vor ihren eignen Gottesdienst 
als den allein wahren proklamiert, so ist sie doch 
weit entfernt, alle andern Kulte unterschiedslos zu 
verdammen, wohl wissend, daß Gott auch die An- 
betung eifriger Protestanten und frommer Juden 
huldvoll annimmt und ihnen auf ihr Gebet seine 
Gnade sendet. Deshalb gönnt Leo XIII. den 
Andersgläubigen wie ihren Gottesdienst, so ihre 
eignen Kultstätten. Vgl. Enzyklika Immortale Dei 
vom 1. Nov. 1885 (bei Denzinger 10, n. 1874): 
Revera si divini cultus varia genera eodem 
iure esse, duo veram religionem, Ecclesia 
i ndicat non licere, non ideo tamen eos dam- 
nat rerum publicarum moderatores, qui, 
magni alicuius adipiscendi boni aut prohi- 
bendi causa mali, moribus atque usu patienter 
ferunt, ut ea habeant singula in civitate 
locum. Auch das Gebet der Gottlosen und 
Sünder verschmäht Gott nicht, auch von ihnen
	        
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