Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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verlangt er Religion. Den berüchtigten Satz 
Quesnels: Oratio impiorum est novum pec- 
catum; et quod Dous illis concedit, est novum 
in eos iudicium (s. Denzinger 10, n. 1409) hat 
Papst Klemens XI. in der Bulle Unigenitus im 
Jahr 1718 feierlich verworfen. 
Seitdem der Staat infolge der Zerreißung des 
einheitlichen Glaubensbandes sich nicht mehr einer 
geschlossenen Glaubenseinheit, sondern einer Viel- 
heit von christlichen Bekenntnissen gegenüber sieht, 
kann er heute als konfessioneller Glaubens- 
staat mit eindeutigen Zielen und Machtmitteln 
nicht mehr auftreten, wie im Mittelalter. Ohne 
Preisgabe seinerchristlichen Grundlage und Grund- 
stimmung ist er genötigt, nach außen hin als inter- 
konfessioneller Rechtsstaat in Aktion zu treten, 
indem er allen staatlich anerkannten Religions- 
gemeinschaften gleiche Freiheit, gleiches Recht und 
gleichen Rechtsschutz zusichert. Das Staatsprinzip 
also kann nur mehr grundsätzliche Religions- 
freiheit heißen. Die weitere Folge ist nicht nur 
die allgemeine Toleranz, sondern auch die Parität, 
welche die staatliche Gleichberechtigung der Staats- 
bürger vom religiösen Bekenntnis unabhängig 
macht, solang die Gesetze des Rechts und der Sitte 
gewahrt werden. Dies bedeutet aber nicht Gleich- 
gültigkeit gegen jede Wahrheit und Religion, 
sondern nur Achtung für die religiöse Uberzeugung 
anderer. Diese Toleranz schließt daher die Sorge 
für die Religion und die Sitten der Untertanen 
nicht aus, modifiziert dieselbe aber nach den be- 
sondern Verhältnissen der religiösen Gemein- 
schaften, denen das streng religiöse Gebiet selbst 
überlassen werden muß. Der Unterricht in der 
Religion wie die Bildung der Religionsdiener 
bleibt zwar ein Gegenstaud der staatlichen Vor- 
sorge, aber die Ausführung ist Sache der Gesell- 
schaften. Insbesondere fordert die katholische Kirche 
als eine „wahre, vollkommene Gesellschaft“ für 
sich dieses Recht, während die protestantischen Be- 
kenntnisse meist den Summepiskopat der Landes- 
fürsten anerkennen. 
Grenzen der Staatsgewalt. Der 
Staat als solcher hat keine Macht über die 
Religion seiner Untertanen. Der antike 
Religionszwang, dem auch Plato und Aristoteles 
mit dem ganzen Altertum huldigten, ist vom uni- 
versellen Christentum durch seine göttliche Kraft 
und Einrichtung überwunden worden. Haben die 
Römer aus Politik den unterworfenen Völkern 
ihre Religion gelassen und durch Senatsbeschluß 
fremde Götter in ihr Pantheon aufgenommen, so 
hat das Christentum wie für die Gesamtheit, so 
auch für den einzelnen das Recht der Religion er- 
kämpft. Das Christentum hat als die allein wahre 
und die vollkommene Religion das Heidentum und 
Judentum zivar verurteilt, aber die Anwendung 
von Gewalt gegen die religiöse Überzeugung 
Andersgläubiger prinzipiell nie gebilligt. Gegen 
den Abfall vom Glauben und die formelle Häresie 
als schwere Sünden wurden seit dem 5. Jahrh. 
Religion. 
  
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allerdings staatliche Maßregeln ergriffen und seit 
dem 13. Jahrh. die Inquisition eingerichtet; aber 
dies geschah ebenso im staatlichen wie im kirchlichen 
Interesse und ist in einer Zeit, welche noch mit 
rohen Gewalten zu kämpfen hatte, wenigstens er- 
klärlich. Anders wurde es, als mit der Refor- 
mation der Grundsatz aufgestellt wurde: Cuius 
regio, illius religio, wodurch ein unerträglicher 
Zwang, die ererbte Religion zu wechseln, aus- 
geübt wurde. Und in der modernen Lehre vom 
Staat seit Machiavelli und Hobbes mußte der 
absolutistischen Fürstengewalt, seit Schelling und 
Hegel der Staatsomnipotenz alles, auch das reli- 
giöse Leben, geopfert werden. Ein solcher nicht 
etwa von der Kirche, sondern vom Staat geübter 
Gewissenszwang ist mit der christlichen Rechts- 
anschauung unverträglich (Syllabus 80). Es kann 
nur Aufgabe des Staats sein, die religiös-sittlichen 
Ideale, welche auch für die materielle Wohlfahrt 
bedeutungsvoll sind, zu fördern und ihre Be- 
tätigung im öffentlichen Leben zu schützen. Da 
diese Ideale ohne religiöse Grundlage nicht ge- 
deihen, so isteine Trennung von Staat und 
Kirche nicht zu wünschen (Syllabus 55). Der 
Staat muß sich der bestehenden Konfessionen zur 
Erhaltung der Religion im Staatsinteresse be- 
dienen und ihnen seinen Schutz angedeihen lassen. 
Dieser bezieht sich auf alle Rechte der freien Re- 
ligionsübung nach der Verfassung des betreffenden 
Bekenntnisses und auf Ahndung der Vergehen gegen 
die öffentliche religiöse Ordnung. Dahin gehören 
alle Vergehen, welche in Wort, Schrift oder Hand- 
lung gegen die wahre Gottesverehrung, ihre Lehre 
und Einrichtungen begangen werden. Es ist eine 
allgemein menschliche Uberzeugung, daß die Ver- 
ächter und Beschimpfer der Gottheit den Frevlern 
beigerechnet werden. Die wahre Gottesverehrung 
ist die christliche, deren nähere Bestimmung aber 
der Staat den einzelnen Konfessionen überlassen 
und danach seinen Schutz und seine Förderung 
bemessen muß. Innerhalb der christlichen Konfes- 
sionenselbst istnicht nurjeder Zwang ausgeschlossen, 
sondern der Staat ist auch im eignen Interesse 
verpflichtet, alle Versuche einer Störung der öffent- 
lichen Ordnung und jede Anwendung unlauterer 
Mittel zur Untergrabung der bestehenden Religion 
zu verhindern. Das compelle intrare hat seit 
Augustinus, der sonst nachdrücklich für den Glauben 
ja den freien Willen fordert, zu oft Konsequenzen 
der bedenklichsten Art nach sich gezogen, als daß 
es für die Kirche oder den Staat als Maxime 
auch nur von weitem zu empfehlen wäre (ogl. 
Romeis, Das Heil der Christen außerhalb der 
wahren Kirche nach der Lehre des hl. Augustinus 
[19081:; J. Mausbach, Die Ethil des hl. Augu- 
stinus II [1909] 260 ff). Man kann den Glau- 
ben, sei es der katholische oder ein anderer, weder 
befehlen noch erzwingen. Ein erzwungener Glaube 
ist kein Glaube mehr und ohne sittlichen Wert, 
da der Glaube auf der Freiheit seiner Annahme 
beruht. Dem Glaubenszwang muß als Heil- 
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