Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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1857 ist den geistlichen Gerichten die Jurisdiktion 
in Ehesachen genommen und einem besondern Ge- 
richt übertragen worden. Das kirchliche Diszipli- 
narverfahren ergreift bloß Kleriker. Die Sus- 
pension ist noch in Brauch. In neuerer Zeit sind die 
convocations (Konvokationen) wieder in Tätig- 
keit getreten, d. h. die Klerikerparlamente. Mit den 
politischen Parteirichtungen (Konservativen: To- 
ries — Liberalen: Whigs) hängt es zusammen, 
daß es in der anglikanischen Kirche eine high und 
eine low church gibt, Hochkirchliche und Nieder- 
kirchliche. Erstere Richtung hatte ihren Stützpunkt 
in der Universität Oxford, besonders in Professor 
Pusey, daher Puseyism, als dessen Nachfolger 
die Schule der Ritualists anzusehen ist. (Über 
die „Anglikanische Kirchengemeinschaft“ val. 
Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht L19091 52 ff.) 
VII. Der Altkatholizismus. Am 16. Juli 
1870 verkündete Pius IX. in der vierten Sitzung 
des Vatikanischen Konzils die Konstitution Pastor 
aeternus unter Zustimmung von 533 Konzils- 
vätern. Im Kap. 3 wurde das Hirtenamt des 
Papstes über die gesamte Kirche von neuem pro- 
klamiert. Im Kap. 4 wurde als Dogma defi- 
niert, daß der römische Pontifex, wenn er ex 
cathedra spreche, d. h. als Hirt und Lehrer aller 
Christen eine die ganze Kirche bindende Lehre über 
den Glauben oder die Sitten feierlich definiere, 
kraft des ihm im hl. Petrus versprochenen gött- 
lichen Beistands vor Irrtum bewahrt bleibe. 
Gegen diese Dekrete richtete sich die Nürnberger 
Erklärung vom 27. Aug. 1870, welche von Döl- 
linger und einer Anzahl Professoren ausging. 
Die Bischöfe Preußens erließen nach ihrer Rück- 
kehr vom Konzil auf der Versammlung in Fulda 
am 30. Aug. 1870 einen gemeinsamen Hirten- 
brief an das katholische Volk, worin sie zeigten, 
daß das sog. „neue“ Dogma stets geglaubt wor- 
den sei. Gegen dissentierende Geistliche wurden 
die entsprechenden kanonischen Strafen verhängt. 
Im Sept. 1871 fand unter Vorsitz des Ritter 
v. Schulte in München der erste Kongreß der 
Konzilsgegner statt. Hier wurde gegen die ein- 
dringliche Warnung Döllingers, nicht Altar gegen 
Altar aufzurichten und sich somit selbst das Brand- 
mal einer Sekte aufzudrücken, eine besondere ge- 
meindliche und kirchliche Organisation beschlossen. 
Man legte sich den Namen „Altkatholiken“ bei, 
da die vatikanischen Dekrete unkatholische Neue- 
rungen darstellten. Bald bildeten sich besondere 
altkatholische Gemeinden. Am 4. Juni 1873 
wurde der Breslauer Theologieprofessor Reinkens 
zum Bischof gewählt und vom jansenistischen Bischof 
von Deventer konsekriert. Er erhielt die staatliche 
Anerkennung von Preußen, Baden und Hessen, 
aber nicht von Bayern. Baden und Preußen 
stellten 1874 Zuschüsse in den Staatshaushalts- 
etat ein. In Baden erging 1874, in Preußen 
1875 ein Gesetz, durch welche den Altkatholiken 
der Mitgebrauch der katholischen Kirchen sowie 
der Mitgenuß des Kirchenvermögens eingeräumt 
Religionsgesellschaften. 
  
(Die Juden.) 534 
wurde. Die altkatholische Bewegung lehnte sich 
stark an den Protestantismus an und erfuhr von 
diesem überall die kräftigste Unterstützung. Eine 
Statistik ist unzuverlässig, da die Altkatholiken 
sich als „Katholiken“ zu bezeichnen pflegen. Die 
Altkatholiken haben einen besondern „katholischen 
Katechismus“, ein besonderes „Katholisches Ri- 
tuale“. Die deutsche Sprache wurde in Liturgie 
und Messe eingeführt. Die Unionsbestrebungen 
mit dem Protestantismus, der englischen und rus- 
sischen Kirche usw. führten zur Aufgabe bzw. Ver- 
wässerung zahlreicher Glaubenslehren. — Was 
die Verfassung betrifft, so steht an der Spitze 
ein Bischof, gewählt von Klerus und Volk. Ihm 
zur Seite steht die Synodalrepräsentanz, aus 
Geistlichen und Laien zusammengesetzt. Dieselbe 
wird gewählt von der Synode, welche die Ver- 
tretung der Gesamtkirche darstellt. Die Pfarrer 
werden von der Gemeinde gewählt auf Lebenszeit 
und vom Bischof bestätigt. Auf der fünften Syn- 
ode 1878 wurde proklamiert, daß die Weihen 
vom Subdiakonat aufwärts kein Ehehindernis 
bildeten. Dem Pfarrer steht für die Besorgung 
der Gemeindeangelegenheiten mit Ausschluß der 
Seelsorge ein Kirchenvorstand zur Seite. 
Ülber die rechtliche Stellung der einzelnen Re- 
ligionsgesellschaften in den einzelnen Staaten 
vgl. den betr. Landesartikel. 
B.Die Juden. Seit der Zerstörung Jerusalems 
haben die Juden eine selbständige üußere Ge- 
schichte nicht gehabt, wohl aber eine eigne innere. 
Die Geschichte der Juden zerfällt in eine alte, 
mittlere und neuere. Erstere reicht von der Zer- 
störung ihres Gemeinwesens durch Vespasian bis 
zum Untergang des römischen Reichs, die Grenze 
der mittleren und neueren Geschichte bildet die 
französische Revolution. In der alten Zeit stellten 
die Schulen der Rabbiner den Mittelpunkt der 
religiösen und nationalen Gemeinschaft dar. Hier 
wurde das Gesetz studiert und tradiert. Das Pro- 
dukt dieser Tätigkeit war der Talmud (500 
eun. Chr.). Durch den Talmud beherrschte das 
Rabbinat das Judentum bis in unsere Tage hin- 
ein und bewahrte ihm das Bewußtsein seiner reli- 
giösen und nationalen Gemeinschaft. — Im rö- 
mischen Reich hatte das Bekenntnis zum Juden- 
tum keine deliktischen Folgen, obschon man das 
erwarten mußte, nachdem das Christentum 379 
zur ausschließlichen Staatskirche gemacht worden 
war. Freilich aber waren die Juden rechtlich zu- 
rückgesetzt; denn nur dem rechtgläubigen Christen 
kam der Vollbesitz der bürgerlichen und staats- 
bürgerlichen Rechte zu. So war der Übertritt 
vom Christentum zum Judentum mit strenger 
Strafe bedroht. Verboten war die Ehe zwischen 
Juden und Christen, ihre Eingehung wurde als 
„Ehebruch“ bestraft. Neue Synagogen durften 
nicht erbaut werden. Die Bekleidung öffentlicher 
Amter war den Juden untersagt, mit Einschluß 
der Advokatur, mit Ausschluß der Munizipal- 
ämter. Die Beschneidung war den Juden er-
	        
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