Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Uberlieferung sich klammernder Systeme, zwischen 
deren Gegensätzen in der Folgezeit die Scholastik 
eines el-Aschari und vor allem die mit der Unter- 
scheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen 
Dogmen operierende Theologie des Ghasäli ge- 
schickt zu vermitteln verstand. 
Wurden so in der Abbassidenzeit auf dem Ge- 
biet der reinreligiösen Fragen Häresien glücklich 
vermieden, so konnte die Wissenschaft doch nicht 
alle Differenzen in der Auffassung des Imamats, 
d. h. der Oberleitung des Islams beseitigen. Der 
Kampf zwischen Ali und Moawija und der Über- 
gang des Imamats auf die Omaijaden hatten den 
Grund zu zwei Protestparteien gelegt: zur Rich- 
tung der Chäridschiten, d. i. Dissidenten, die von 
jedem rechtmäßigen Kalisen Unterwerfung unter 
den Willen der Gemeinde und persönliche Fröm- 
migkeit verlangten, und der der Schiiten, der 
Parteigänger Alis und seiner Familie im Kampf 
gegen die Omaijaden, deren Sache sich in der 
Folgezeit eine große Zahl iranischer Neugläubigen 
zu eigen machte, so daß der Parteischwerpunkt 
bald in den äußersten Osten des Reichs verlegt 
wurde. Obwohl von der orthodoxen Theologie 
als Ketzer gebrandmarkt, bewiesen beide politisch- 
religiösen Parteien eine große Lebenskraft. Wäh- 
rend die Chäridschiten in gemäßigter Form als 
Ibäditen (d. h. Anhänger des Abdallah, Sohn 
des Ibäd) sich dauernd in Südostarabien, San- 
sibar und Algier hielten, wucherte die Schia mit 
mystischen Elementen stark durchsetzt in den beiden 
Grenzmarken des Islams, Marokko und Persien, 
fort, und wurde nach der Errichtung eines national- 
persischen Reichs für dieses seit den Tagen der 
Sefewidendynastie (gegründet 1501) sogar als 
Staatsreligion proklamiert. 
Stärker noch als im Kalifat ward die Idee 
der Theokratie im Mahdismus betont, dessen durch- 
aus unkoranischer Begriff seit dem 9. Jahrh. für 
weite Kreise Dogma wurde. Der Mahdismus 
rechnet mit der Regeneration des Islams durch 
einen unmittelbar vor dem Weltgericht erscheinen- 
den Messias oder Gottmenschen. Trotzdem hier- 
nach sein Auftreten nur der Übergang vom zeit- 
lichen zum ewigen Gottesreich wäre, haben sich 
doch an das Auftreten verschiedener Mahdis 
größere politische Verschiebungen mit der Tendenz 
der Gründung neuer Kalifate geknüpft. In der 
Schia erzeugte der Mahdismus den Ismailismus, 
der eine größere Reihe von Inkarnationen des 
Weltgeistes lehrte und seine Anhänger stufenweise 
von der allegorischen Erklärung der islamischen 
Dogmen und Riten zu deren völligen Leugnung 
führte. Mit dem Versuch, 1017 den Fatimiden- 
kalifen Häkim der Welt als Schlußstein der In- 
karnationsreihe und damit als Mahdi vorzustellen, 
spielte der Ismailismus seine letzte Karte aus; 
ob dieser Gott auch bald aus der Welt ver- 
schwand, so hat sich der Glaube an ihn doch 
bis heute bei den Drusen des Libanons lebendig 
erhalten. 
Religionsgesellschaften. 
  
(Der Jslam.) 540 
Das Kalifat der Abbassiden bildete zwar die 
am meisten typische, keineswegs aber einzige Ver- 
körperung der Kalifatsidel. Das aus der Schia 
erwachsene Kalifat der Fatimiden, angeblichen 
Nachkommen des Ali (972/1171), und das der 
Almohaden, eine Schöpfung des Mahdi Moham- 
med ben Tumart (1121/1269), erhoben ähnliche 
Ansprüche auf die Führung der islamischen Welt. 
Bald nach der Eroberung Agyptens (1517) durch 
die Osmanen legte sich auch deren Sultan, Se- 
lim I., den Kalifentitel bei; besonders der Besitz der 
heiligen Stätten Mekka und Medina mußte bei ihm 
und seinen Nachfolgern das Fehlen kanonischer 
Rechtstitel decken. Mit dem osmanischen Kalifat 
rivalisierte sodann in der Folgezeit (seit 1544) 
das scherifische von Marokko, das seine Ansprüche 
von Verwandtschaftsbeziehungen mit dem Pro- 
pheten herleitete. Unberührt vom Hin= und Her- 
wogen der Ansprüche auf den Prinzipat, vom 
Wechsel der herrschenden Dynastien, ja sogar von 
der Durchsetzung der arabisch-persischen Kultur- 
welt mit mongolisch-türkischen Barbaren blieb be- 
stehen, was das Abbassidenzeitalter begründet 
hatte: die im Volksgefühl als Ideal ruhende 
Synthese von Staat, Religion und Zidilisation. 
II. Der Islam von heute. 1) Verbrei- 
tung. Die Zahl der Anhänger läßt sich zurzeit 
nur annähernd genau bestimmen: die Schwierig- 
keit, besonders für Mittelafrika und China richtige 
statistische Angaben zu machen, erklärt, daß der 
Gesamtansatz zwischen 224 000 000 (nach M. 
Hartmann) und 260 000 000 (nach H. Jansen) 
schwankt. Von ersteren entfallen auf Asien 
158000 000, und zwar auf Türkisch-Asien 
11 190 000, Arabien (soweit es unabhängig) 
3500 000, Persien 8 900 000, Afghanistan 
4375000, Britisch-Indien 61 220 000, Nieder- 
ländisch-Indien 33061.000, Französisch-Hinter- 
indien 1169000, Siam 1000000, China 
23332000 (bei Jansen: 33.000.000), Russisch- 
Asien 9 644 000; auf Afrika 520000000, und 
zwar auf Agypten-Sudan 8544.000, Türkisch- 
Nordafrika 996 000, Marokko 7 840 000, Fran- 
zösische Kolonien 16 676 000, Deutsche Kolonien 
8500000 (in Ostafrika 6700.000), Englische Ko- 
lonien 7771.0000, Belgische Kolonien 1 0070000, 
Abessinien 800 000; auf Europa 12991,000, 
und zwar auf Rußland (mit Kaukasus) 81410.000, 
Türkei 3 295.000, Bulgarien 603.000, Osterreich 
549000. Von der Gesamtzahl sind Sunniten: 
213.000 000, Schiiten (in Persien, Indien, Je- 
men) 10 000000. Dem Rechtsritus nach sind 
die Moslems von Tripolis, Tunis, Algier und 
Marokko Malikiten, die von der Türkei, Britisch-- 
Indien und China Hanafiten, die von Agypten, 
Jemen, Sansibar und Niederländisch-Indien 
Schafüitten, die von Mittelarabien (Wahhabiten) 
Hanbaliten. Rückschritte macht der Islam in Süd- 
osteuropa gegenüber dem Christentum; Fortschritte 
gegenüber Hinduismus in Vorderindien, gegen- 
über Fetischismus in Niederländisch-Indien und
	        
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