Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

541 
West= und Mittelafrika, gegenüber dem Christen- 
tum in Abessinien. 
2. Staatliche Verhältnisse. Der isla- 
mische Staatsbegriff ist gegen jede Beherrschung 
von Moslems durch Nichtmoslems; nichtsdesto- 
weniger stehen in der Gegenwart ungefähr drei 
Viertel aller Moslems unter europäisch-christlicher 
Herrschaft. Als Dar-ul-Islam, d. h. Land, wo der 
Islam sich selbst regiert, haben nur noch Türkei, 
Persien, Marokko und eventuell Agypten zu gelten. 
Indessen beruht die Kraft und damit die Zukunft 
des Islams fast einzig auf seiner Vertretung 
außerhalb des Dar-ul-Islams; denn jede Fremd- 
herrschaft führt ihn dazu, daß er sich auf seine 
Eigenart besinnt, während Selbstherrschaft ihn in 
Widerstreit zu sich selbst setzt. In der Türkei und 
in Persien hat der Nationalismus die alte Idee 
des islamischen Einheitsstaats aus den Köpfen der 
jungen Generation fast völlig verdrängt, und wird 
nationale Wiedergeburt durch den Übergang zu 
einem Konstitutionalismus nach europäischem 
Muster angestrebt. Die Türkei besitzt nominell 
seit dem 23. Dez. 1876, faktisch aber erst seit dem 
1. Aug. 1908 eine Verfassung. Für den Islam 
ist darin noch die Bezeichnung Staatsreligion und 
für den Sultan die eines Kalisen und Hüters der 
Religion; im übrigen sind die Begriffe der staats- 
kirchlichen Scheriatgesetzgebung ausgeschaltet. Allen 
Untertanen wird ohne Rücksicht auf Religion oder 
Sekte Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. Der 
Sultan übt Herrscherrechte auf allen Gebieten des 
öffentlichen Lebens; doch hat er als vorbereitende 
Körperschaft ein Parlament neben sich, bestehend 
aus einem Senat und einem Haus der Abgeord- 
neten, wovon jener zu einem Drittel vom Sultan 
ernannt, dieses vom gesamten Volk gewählt wird. 
Die persische Verfassung datiert vom 5. Aug. 1906 
(mit Ergänzungen vom 8. Okt. 1907). Sie hat 
den Absolutismus des Schahs auf ein „geheiligtes“ 
Parlament von 120 auf 2 Jahre indirekt gewähl- 
ten Mitgliedern übertragen und die Führung der 
Staatsgeschäfte einem dem Parlament verant- 
wortlichen Kabinett von 7 Ministern zugewiesen; 
der Schah ist nur als Staatsrepräsentant bei- 
behalten. Die Reformpartei der Türkei kann sich 
nötigenfalls auf ein Heer und gewisse sichere Staats- 
einkünfte stützen; derjenigen Persiens fehlt beides. 
Agypten hat seinen Nationalismus erst infolge der 
englischen Besetzung ausgebildet, ohne dabei über 
das Schlagwort „Agypten den Agyptern" hinaus- 
gekommen zu sein; gegen England wird daneben 
auch der Panislamismus gern angerufen. Ma- 
rokko vertritt noch ganz das Staatsideal des 
Frühislams. Sein Kalif vereinigt in sich die Fülle 
geistlich-weltlicher Macht, bei deren Ausübung ihm 
seine Hausmacht, der Machsen, zur Seite steht. 
Als Staatsangehörige gelten nur die Moslems; 
Juden werden geduldet, wenn sie den Schutz des 
Kalifen erkaufen; Andersgläubige sind Fremd- 
körper im Staat. — Die 160 Millionen unter 
fremder Herrschaft stehenden Moslems leisten ihre 
Religionsgesellschaften. 
  
(Der Islam.) 542 
Untertanenpflichten überall (abgesehen von Oster- 
reich — außer Bosnien und Hercegovina —, das 
seit 1910 den Islam als Religionsgenossenschaft 
unter der Bedingung seiner Unterstellung unter 
das staatliche Recht anerkennt) nur für den Preis 
der Beibehaltung der kanonischen Ehe-, Familien- 
und Erbschaftsgesetzgebung; so gehen ihre Inter- 
essen selten rein in denen der übrigen Staatsbürger 
auf. Einzig der indische Reuislam der Richtung 
des Saijed Achmed Chan lehrt die Pflicht ehr- 
licher Anerkennung nichtmoslemischer Obergewalt; 
wohl alle andern Moslems fühlen sich als 
Zwangsuntertanen und üben die kanonisch vorge- 
schriebene Verstellung (Takija) im Dienst des 
Glaubens. Diese Idee des Zwangs hält bei ihnen 
das allgemein-islamische Gefühl wach und macht sie 
deshalb der Propaganda des Panislamismus 
leicht zugänglich. Von Sultan Abdu 'l-Hamids 
Regierung im Interesse einer türkischen Macht- 
erweiterung eingeleitet, wird sie nach dem Über- 
gang der Türkei zum ausgesprochenen Nationalis= 
mus vor allem von seiten der geistlichen Kreise 
Mekkas, vieler nordafrikanischer Bruderschaften 
(Chuans), besonders der mahdistischen Senusia 
(in Tripolis) im geheimen stark betrieben und sucht 
die alten islamischen Ideale von Staat, Religion 
und Leben wach zu halten. So besteht die Gefahr, 
daß der Panislamismus besonders für den Mah- 
dismus Boden schafft. 
3. Religiöse Verhältnisse. Fest ein- 
geschworen auf die dogmatischen Formeln der 
mittelalterlichen Theologie stellt der heutige Islam 
in religiöser Hinsicht trotz des Fehlens einer kirch- 
lichen Einrichtung einen in sich geschlossenen Or- 
ganismus dar. Näher betrachtet zeigt derselbe 
allerdings manche lokalen Verschiedenheiten. So 
ist dem nordafrikanischen Islam die Verehrung 
lebender wie toter Heiligen bzw. Wundertäter und 
ein entwickeltes Bruderschaftswesen eigen; der 
Vorderorient bewahrt unter moslemischer Ver- 
brämung manche Reste altsemitischer Naturkulte; 
besonders Persien hat seine in künstliche Ekstase sich 
versetzenden Derwische und daneben starke Ansätze 
zu einer faktischen Hierarchie; endlich verträgt sich 
in unzivilisierten Gegenden wie Sumatra oder 
Mittelafrika das islamische Glaubensbekenntnis 
recht gut mit heidnischer Zauberpraxis. Bei der 
großen Befriedigung, die dem Durchschnittsmoslem 
seine Religion gewährt, tritt ein Verlangen nach 
Reformen im Islam wenig zu tage. Zu deut- 
licherem Ausdruck kommt es nur in dem arabi- 
schen Wahhabismus, dem persischen Babismus 
und dem vorderindischen Neuislam. Der Wahha- 
bismus, dessen Gründung noch dem 18. Jahrh. 
angehört, erstrebt eine Reform durch Zurück- 
schraubung des Islams auf seine primitivste Stufe 
unter Leugnung des Prinzips des Consensus 
omnium; er verwirft deshalb die Verehrung von 
Propheten und Heiligen, verbietet jeden Luxus im 
kirchlichen und privaten Leben und dehnt die 
Dschihädpflicht auch auf die Bekämpfung entarteter
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.