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West= und Mittelafrika, gegenüber dem Christen-
tum in Abessinien.
2. Staatliche Verhältnisse. Der isla-
mische Staatsbegriff ist gegen jede Beherrschung
von Moslems durch Nichtmoslems; nichtsdesto-
weniger stehen in der Gegenwart ungefähr drei
Viertel aller Moslems unter europäisch-christlicher
Herrschaft. Als Dar-ul-Islam, d. h. Land, wo der
Islam sich selbst regiert, haben nur noch Türkei,
Persien, Marokko und eventuell Agypten zu gelten.
Indessen beruht die Kraft und damit die Zukunft
des Islams fast einzig auf seiner Vertretung
außerhalb des Dar-ul-Islams; denn jede Fremd-
herrschaft führt ihn dazu, daß er sich auf seine
Eigenart besinnt, während Selbstherrschaft ihn in
Widerstreit zu sich selbst setzt. In der Türkei und
in Persien hat der Nationalismus die alte Idee
des islamischen Einheitsstaats aus den Köpfen der
jungen Generation fast völlig verdrängt, und wird
nationale Wiedergeburt durch den Übergang zu
einem Konstitutionalismus nach europäischem
Muster angestrebt. Die Türkei besitzt nominell
seit dem 23. Dez. 1876, faktisch aber erst seit dem
1. Aug. 1908 eine Verfassung. Für den Islam
ist darin noch die Bezeichnung Staatsreligion und
für den Sultan die eines Kalisen und Hüters der
Religion; im übrigen sind die Begriffe der staats-
kirchlichen Scheriatgesetzgebung ausgeschaltet. Allen
Untertanen wird ohne Rücksicht auf Religion oder
Sekte Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. Der
Sultan übt Herrscherrechte auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens; doch hat er als vorbereitende
Körperschaft ein Parlament neben sich, bestehend
aus einem Senat und einem Haus der Abgeord-
neten, wovon jener zu einem Drittel vom Sultan
ernannt, dieses vom gesamten Volk gewählt wird.
Die persische Verfassung datiert vom 5. Aug. 1906
(mit Ergänzungen vom 8. Okt. 1907). Sie hat
den Absolutismus des Schahs auf ein „geheiligtes“
Parlament von 120 auf 2 Jahre indirekt gewähl-
ten Mitgliedern übertragen und die Führung der
Staatsgeschäfte einem dem Parlament verant-
wortlichen Kabinett von 7 Ministern zugewiesen;
der Schah ist nur als Staatsrepräsentant bei-
behalten. Die Reformpartei der Türkei kann sich
nötigenfalls auf ein Heer und gewisse sichere Staats-
einkünfte stützen; derjenigen Persiens fehlt beides.
Agypten hat seinen Nationalismus erst infolge der
englischen Besetzung ausgebildet, ohne dabei über
das Schlagwort „Agypten den Agyptern" hinaus-
gekommen zu sein; gegen England wird daneben
auch der Panislamismus gern angerufen. Ma-
rokko vertritt noch ganz das Staatsideal des
Frühislams. Sein Kalif vereinigt in sich die Fülle
geistlich-weltlicher Macht, bei deren Ausübung ihm
seine Hausmacht, der Machsen, zur Seite steht.
Als Staatsangehörige gelten nur die Moslems;
Juden werden geduldet, wenn sie den Schutz des
Kalifen erkaufen; Andersgläubige sind Fremd-
körper im Staat. — Die 160 Millionen unter
fremder Herrschaft stehenden Moslems leisten ihre
Religionsgesellschaften.
(Der Islam.) 542
Untertanenpflichten überall (abgesehen von Oster-
reich — außer Bosnien und Hercegovina —, das
seit 1910 den Islam als Religionsgenossenschaft
unter der Bedingung seiner Unterstellung unter
das staatliche Recht anerkennt) nur für den Preis
der Beibehaltung der kanonischen Ehe-, Familien-
und Erbschaftsgesetzgebung; so gehen ihre Inter-
essen selten rein in denen der übrigen Staatsbürger
auf. Einzig der indische Reuislam der Richtung
des Saijed Achmed Chan lehrt die Pflicht ehr-
licher Anerkennung nichtmoslemischer Obergewalt;
wohl alle andern Moslems fühlen sich als
Zwangsuntertanen und üben die kanonisch vorge-
schriebene Verstellung (Takija) im Dienst des
Glaubens. Diese Idee des Zwangs hält bei ihnen
das allgemein-islamische Gefühl wach und macht sie
deshalb der Propaganda des Panislamismus
leicht zugänglich. Von Sultan Abdu 'l-Hamids
Regierung im Interesse einer türkischen Macht-
erweiterung eingeleitet, wird sie nach dem Über-
gang der Türkei zum ausgesprochenen Nationalis=
mus vor allem von seiten der geistlichen Kreise
Mekkas, vieler nordafrikanischer Bruderschaften
(Chuans), besonders der mahdistischen Senusia
(in Tripolis) im geheimen stark betrieben und sucht
die alten islamischen Ideale von Staat, Religion
und Leben wach zu halten. So besteht die Gefahr,
daß der Panislamismus besonders für den Mah-
dismus Boden schafft.
3. Religiöse Verhältnisse. Fest ein-
geschworen auf die dogmatischen Formeln der
mittelalterlichen Theologie stellt der heutige Islam
in religiöser Hinsicht trotz des Fehlens einer kirch-
lichen Einrichtung einen in sich geschlossenen Or-
ganismus dar. Näher betrachtet zeigt derselbe
allerdings manche lokalen Verschiedenheiten. So
ist dem nordafrikanischen Islam die Verehrung
lebender wie toter Heiligen bzw. Wundertäter und
ein entwickeltes Bruderschaftswesen eigen; der
Vorderorient bewahrt unter moslemischer Ver-
brämung manche Reste altsemitischer Naturkulte;
besonders Persien hat seine in künstliche Ekstase sich
versetzenden Derwische und daneben starke Ansätze
zu einer faktischen Hierarchie; endlich verträgt sich
in unzivilisierten Gegenden wie Sumatra oder
Mittelafrika das islamische Glaubensbekenntnis
recht gut mit heidnischer Zauberpraxis. Bei der
großen Befriedigung, die dem Durchschnittsmoslem
seine Religion gewährt, tritt ein Verlangen nach
Reformen im Islam wenig zu tage. Zu deut-
licherem Ausdruck kommt es nur in dem arabi-
schen Wahhabismus, dem persischen Babismus
und dem vorderindischen Neuislam. Der Wahha-
bismus, dessen Gründung noch dem 18. Jahrh.
angehört, erstrebt eine Reform durch Zurück-
schraubung des Islams auf seine primitivste Stufe
unter Leugnung des Prinzips des Consensus
omnium; er verwirft deshalb die Verehrung von
Propheten und Heiligen, verbietet jeden Luxus im
kirchlichen und privaten Leben und dehnt die
Dschihädpflicht auch auf die Bekämpfung entarteter