Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Schlagwort für die gesamte spezifisch in dische 
Welt sowohl in religiöser als in gesellschaftlicher 
Beziehung geworden. Die Geschichte des Worts 
ist die Geschichte des religiösen, sozialen, geistigen 
Lebens des Hinduismus. Denn die Entwicklung, 
welche vom Brahma zum Brahmanen, vom Brah- 
manen zum Brahmanismus, vom Brahmanismus 
zum Hinduismus führte, umspannt das gesamte 
Leben der indischen Gesellschaft und bezeichnet in 
der Stufenfolge Brahma, Brahmane, Brahma- 
nismus ebenso viele Phasen eines religiösen und 
sozialen Entwicklungsprozesses, als dessen letzter 
Ausläufer der moderne Hinduismus erscheint. 
Aus der beherrschenden Stellung des Opferkultus 
im religiösen und gesellschaftlichen Leben ergab 
sich frühzeitig die beherrschende Stellung derer, 
denen die Pflege des Kultus oblag. Es ent- 
wickelte sich eine religiös-gesellschaftliche Gruppe, 
die als Träger der Kultusüberlieferungen in dem 
Maß an Einfluß wuchs, als der Opferkultus 
selbst, an Bedeutung alle andern Institutionen 
der indischen Gesellschaft überragend, immer tiefer 
in das gesamte Volksleben eindrang. Sie ver- 
körpert sich als Vormacht einer nach Kasten ge- 
schiedenen Staats= und Gesellschaftsordnung im 
brahmanischen Priestertum. 
2. Brahmanische Staatstheorie. Die 
Kaste ist für uns zum Inbegriff der religiösen 
und gesellschaftlichen Eigenart des Hinduiemus 
geworden. Im Kastenwesen erblicken wir den 
Aufbau einer ganz vom brahmanischen Priester- 
tum beherrschten, in den einzelnen Gruppen und 
Klassen gegenseitig schroff abgesperrten gesellschaft- 
lichen Gliederung. Diese Auffassung stützt sich 
auf die in den altindischen Rechtsbüchern nieder- 
gelegte brahmanische Theorie von Staat und Ge- 
sellschaft. Diese Theorie teilt die altindische Ge- 
sellschaft in vier Gruppen oder Klassen und weist 
einer jeden ganz bestimmte, ihrem Charakter eigne 
Berufe und Beschäftigungen zu. An der Spitze 
stehen die Brahmanen; sie repräsentieren den 
Priester= und Gelehrtenstand. An zweiter Stelle 
erscheinen die Kschatriya oder „Krieger“, welchen 
die Aufgabe zufällt, das Volk zu schützen. Die 
Vaischya bilden als ackerbautreibende Bevölkerung 
die dritte Hauptgruppe. Die vierte Klasse umfaßt 
unter dem Namen Sudra die dienende Bevölke- 
rung. Diese Gruppierung der verschiedenen Stände 
und Berufe wurde in der brahmanischen Staats- 
theorie zum Kastensystem entwickelt, und zwar so, 
daß die drei unteren Gruppen nur ebenso viele 
Stufen zur Stütze des brahmanischen Priester- 
tums bilden, dem die ganze Staats= und Gesell- 
schaftsordnung untergeordnet und dienstbar ge- 
macht wird. Unbekümmert um tatsächliche Ver- 
hälmisse baute sich der Brahmane eine Theorie 
aus, die ihm geeignet schien, die beanspruchte Herr- 
schaft des Priesterstands als auf ewiger göttlicher 
Ordnung ruhend zu beweisen. Gewisse Klassen- 
unterschiede, die, wie sie ähnlich überall, so auch 
in Indien zur Zeit der ältesten Kulturperiode 
Religionsgesellschaften. (Ostasiatische Religionsgesellschaften.) 
  
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bestanden hatten und in den heiligen Büchern über- 
liefert waren, dienten den Brahmanen als Auf- 
bau für ihre Kastentheorie. Mit diesen Unter- 
schieden des Berufs verbanden die brahmanischen 
Gesellschaftstheoretiker in den Rechtsbüchern ge- 
wisse auf religiöse Riten, die Ehe und die Nah- 
rung bezügliche Satzungen, wie sie vermutlich in 
den vielen Familiengemeinschaften der einzelnen 
Stände bereits seit alter Zeit vorhanden waren. 
Aus diesen Satzungen entwickelten sie die Kaste 
als „göttliche Institution“, um darin die theokra- 
tische Herrschaft der Brahmanen über alle andern 
Ordnungen aufzurichten. Menschenwillkür sollte 
nicht rütteln dürfen an dem Grundgesetz der Kaste, 
welches das Volk in den Willen des Königs, den 
König aber in den Willen des Priesters gab. 
Aber die tatsächlichen Verhällnisse des staatlichen 
und gesellschaftlichen Lebens erwiesen sich stärker 
als der aus der religiösen Überlieferung hergelei- 
tete Anspruch der Priesterkaste auf die Vorherr- 
schaft. Nirgends zeigt sich die Einseitigkeit brah- 
manischer Darstellung deutlicher als in der Art 
und Weise, wie in der priesterlichen Literatur 
alle übrigen Stände der souveränen Macht des 
Brahmanentums untergeordnet werden. So tief 
die brahmanische Überlieferung als Religion in 
das Leben des indischen Volks eingreift, so ist 
doch dessen Staats= und Gesellschaftsordnung 
niemals auf der frei ersonnenen theokratischen 
Grundlage einer Priesterkaste aufgebaut gewesen. 
An der Spitz stand seit urdenklichen Zeiten der 
im Stand der Kschatriya zusammengefaßte grund- 
herrliche Adel mit dem staatsrechtlich unumschränkt 
waltenden König als Haupt. Die Kschatriya 
stellen als Träger des Grundbesitzes die herr- 
schende Macht dar. Was diese von der brahma- 
nischen Staatstheorie an die zweite Stelle gerückte 
Kaste der Adels= und Kriegergeschlechter ebenso- 
sehr über die erste oder priesterliche Kaste wie über 
die dritte oder ackerbautreibende Kaste erhebt, ist 
der Grundbesitz, der ihr das politische, soziale, 
wirtschaftliche Ubergewicht im Staatsleben gab, 
ohne jedoch das streng religiöse und geistige An- 
sehen der Brahmanen zu beeinträchtigen. Das 
„Königsrecht“ wird daher in den Rechtsbüchern 
als die tragende (dharma „Recht“ von dharana 
„Tragen") Macht aller Ordnungen geschildert. 
„Das Königsrecht", so sagt ein altindischer 
Rechtsspruch, „entsprang als erstes Recht aus dem 
göttlichen Urgrund. Der Adelsstand steht über 
allen andern Ständen.“ „Alle Geschöpfe stützen 
sich auf das Recht, das Recht selbst aber gründet 
im König.“ „Alle Rechtsordnungen der übrigen 
Stände wurzeln im Königsrecht.“ Das in den 
Gesetzbüchern (dharma pästra) niedergelegte 
„Recht“ (dharma) beruht daher als Inbegriff 
der staatlichen und sozialen Ordnung nicht auf 
dem Stand der Brahmanen, sondern auf dem des 
Adels. Haben wir demnach in der brahmanischen 
Theorie nichts weniger als ein getreues Bild der 
Staats- und Rechtsordnung, so dürfen wir an- 
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