Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

559 Religionsgesellschaften. 
sehr bescheidene Fortschritte bis in die letzte Zeit 
gemacht hat. 
Ahnlich wie in Birma hat sich im Nachbarstaat 
Siameine ausgesprochen buddhistische Religions- 
gesellschaft als Landesreligion auf der Grundlage 
eines organisierten Bonzentums entwickelt. Die 
Organisation der Bonzengemeinde ist hier wie 
überall sehr einfach. Jede Pagode hat ihren, aus 
der Mitte der Bonzen gewählten Vorsteher, dem 
die Leitung der Gemeinde anvertraut wird kraft 
königlichen Indults. Größere Verbände bilden 
einen Provinzialdistrikt. Über allen steht der aus 
Prinzen des königlichen Hauses und aus könig- 
lichen Ministern zusammengesetzte „Oberste Rat 
des heiligen Gesetzes“. Höchstes Haupt der Re- 
ligionsgesellschaft ist der König selbst. Als oberster 
Bonze des Landes hat er selbst eine Zeitlang das 
gelbe Mönchsgewand getragen. Der buddhistische 
Mönch ist der Lehrer und Erzieher der Siamesen 
geworden. Mit dem buddhistischen Birma und 
Kambodscha stimmt Siam darin überein, daß die 
männliche Bevölkerung, wenn sie Anspruch auf die 
vollen staatsbürgerlichen Rechte erheben will, eine 
Zeit unter der Zucht der Bonzen zubringen muß. 
An diesem Gebrauch wurde so streng festgehalten, 
daß auch die Söhne der besten Familien sich 
diesem religiösen Zwang nicht entziehen können. 
Der großen Ausbreitung der Bonzenschulen ist 
es zuzuschreiben, daß die meisten Männer in Siam 
ganz so wie in Birma lesen und schreiben können. 
So wenig der Buddhismus sonst sich literarischer 
und wissenschaftlicher Erfolge rühmen kann, so hat 
er doch durch die Ausbreitung des elementaren 
Unterrichts sich ein großes Verdienst um die Bil- 
dung des Volks erworben. Der Siamese sieht in 
der Bonzengemeinde die religiöse und sittliche 
Grundlage seines kulturellen Lebens; diese aber 
darf als Hüterin seiner geistigen Güter eine dem 
Königtum ebenbürtige Stellung einnehmen. In 
dieser Stellung behauptet sich die Bonzengemeinde 
als Mittelpunkt der buddhistisch-siamesischen Re- 
ligionsgesellschaft unbeschadet des mächtigen Ein- 
flusses der sich immer stärker ausbreitenden europäi- 
schen Zivilisation. Bis jetzt hat das Reich des 
weißen Elefanten dem Vordringen des Christen- 
zun, einen zähen passiven Widerstand entgegen- 
gesetzt. 
Wie in Siam und Birma, so hat sich in Kam- 
bodscha der Buddhismus als geschlossene Reli- 
gionsgesellschaft durch eine Organisation erhalten, 
die seinem Bonzentum eine besondere staatsrecht- 
liche und gesellschaftliche Stellung im Volk gibt. 
Die Bonzenklöster bilden eine administrative Ge- 
meinschaft, deren oberster Chef der König ist. Sie 
zerfällt in zwei große Gruppen. Als oberstes 
Haupt der Bonzengemeinde übt der König auf die 
Güterverwaltung einen großen Einfluß durch zwei 
Oberbeamte aus, denen die UÜberwachung der 
finanziellen Administration gleichzeitig mit der 
Gerichtsbarkeit über die Bonzen anvertraut ist. 
Die Verwaltungskreise zerfallen, der Einteilung 
(Ostasiatische Religionsgesellschaften.) 
  
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nach Provinzen entsprechend, in Provinzialbezirke 
und diese hinwiederum in lokale Distrikte, denen 
besondere, aus der Reihe der älteren Bonzen ge- 
wählte Obere vorstehen. Auch hier sind die 
Bonzenklöster die Mittelpunkte des Unterrichts. 
Der Bonze ist der Lehrer des Volks, der Hüter 
seiner geistigen Güter. Darum genießt er eine 
hohe Verehrung. Die buddhistische Mönchs- 
gemeinde hat es auch in Kambodscha verstanden, 
ihre Herrschaft inmitten eines tiefer stehenden 
Volks zu begründen und zu erhalten. Frei von 
allem Kastenzwang war sie wie geschaffen, um 
sich eng mit ihm zu verbinden und über die unter- 
sten Stufen der Zivilisation emporzuheben. Aber 
es fehlt der tiefere Gehalt religiösen und sittlichen 
Strebens. Darum bleibt aller Fortschritt zu 
höherer Kultur ausgeschlossen, so lang es der 
christlichen Zivilisation nicht vergönnt ist, 
tiefer einzudringen. 
4. Lamaismus. In einer besondern Form 
hat sich das buddhistische Mönchtum als Lamais- 
mus über das zentrale und nordöstliche Asien aus- 
gebreitet. Das Lamatum ist ein Gebilde ganz 
eigner Art. Obschon in seiner Grundrichtung mit 
der Erlösungslehre des ursprünglichen Buddhis- 
mus übereinstimmend, hat es sich doch in seiner 
äußern Form so seltsam gestaltet, daß man diesen 
Zweig des buddhistischen Mönchtums fast für ein 
ganz selbständiges Gebilde nehmen könnte. Der 
Lamaismus stellt die entartetste Phase in den 
Wandlungen des Buddhismus dar. Geburts- 
stätte dieser neuen Erscheinung ist die Hochgebirgs- 
welt des Himalaja, das klassische Land des indi- 
schen Zauberwesens. Die indischen Fürstentümer 
am südlichen Abhang des Himalaja waren der 
fruchtbare Boden der unter dem Namen Tantra 
bekannten indischen Zauberliteratur. Mit diesem 
Zauberwesen mischte sich das buddhistische Mönch- 
tum der Himalajaregionen, und aus dieser 
Mischung ging der Lamaismus als eine neue 
körperschaftlich gegliederte buddhistische Gemeinde 
hervor, die in Tibet den Mittelpunkt ihrer Orga- 
nisation und den Ausgangspunkt ihrer Verbreitung 
fand. Die Organisation des lamaistischen Mönch- 
tums gipfelt im Dalailama, als der jeweiligen 
Inkarnation Buddhas. Aus der ursprünglich re- 
ligiös-genossenschaftlichen Organisation ist eine 
religiös-staatliche geworden, insofern das tibeta- 
nische Lamatum Träger der staatlichen Gewalt 
als der eigentliche Beherrscher Tibets geworden 
ist mit Lhassa als seinem religiösen und politischen 
Zentrum. Von dort verteilt sich die religiös-poli- 
tische Gewalt auf die großen Lamaklöster des 
Landes. Es sind wahre Festungsstädte, von 
denen manche 4000/5000 wehrkräftige Mönche 
zählen. Durch sie ergießt sich der Buddhismus 
als Lamaismus über das zentrale und nordöst- 
liche Asien. Auf diese Weise ist Tibet eine reli- 
giöse Macht geworden, die mit ihrem Einfluß von 
den Gebirgswällen des Himalaja durch ganz 
China weit über die Wälle der chinesischen Mauer
	        
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