563 Religionsgesellschaften.
lischen Regiment, mit ihren lautern Sitten und
sinnreichen Bräuchen sieht er die einzige Möglich-
keit einer nationalen Wiedergeburt. In diesem
Sinn sammelt er alles, was er an Aufzeichnung
über die alten Riten, an geschichtlichen Über-
lieferungen und Urkunden, an alten Liedern und
Gesängen aufzufinden vermag. In den alten Lie-
dern und Ritualvorschriften findet sich zwar sehr
viel Religiöses. Aber nicht um sie als Denkmal
der Religion der Nachwelt zu überliefern, sammelt
Konfuzius die Texte, sondern um in ihnen dem
Volk eine ethisch-politische Norm zu geben. Nicht
religiöse, sondern ethisch-pädagogische Gesichts-
punkte waren für ihn maßgebend. Die Schrift-
werke, welche Konfuzius von neuem in das Ge-
dächtnis des Volks zurückrief, nehmen seitdem in
der Wertschätzung der Nation eine Sonderstellung
ein. Sie haben alle Konfuzius zum Ausgangs-
punkt, nicht weil er ihr Schöpfer ist, sondern weil
er sie zu dem gestempelt hat, was sie in den Augen
des Volks geworden und bis auf den heutigen Tag
geblieben sind. Nach Zeit, Inhalt und Form ver-
schieden, bilden sie doch eine einheitliche, in sich
geschlossene Gruppe. Dadurch sind sie eine Macht
geworden, die ihren Einfluß auf das ganze geistige
Leben des Volks ausgeübt hat und noch ausübt.
Einmal dem Untergang durch Konfuzius entrissen,
wurden sie die Grundlage der gesamten Volks-
erziehung sowohl nach der intellektuellen wie nach
der ethischen Seite hin. Sie gelten als die Summe
und den Inhalt alles Wissens, und als Inbegriff
aller Normen des ethischen Verhaltens sind sie die
Grundlage des Staats und der Gesellschaft ge-
worden. Daß Konfuzius in der geistigen Ent-
wicklung seines Volks eine solche Stellung einzu-
nehmen berufen war, verdankt er seiner typischen
Persönlichkeit. Adel der Gesinnung, Lauterkeit
des Charakters, tiefer sittlicher Ernst der Persön-
lichkeit wie der Lehre wird niemand ihm absprechen
wollen. Indem er das Chinesentum vorbildlich in
seiner Person verkörperte, vermochte er auch sein
Volk nach seinem Ebenbild umzuschaffen. Aber
Jahrhunderte vergingen, bevor dieses Vorbild sich
die uneingeschränkte Machtstellung eroberte, die es
heute im staatlichen und gesellschaftlichen Leben
Chinas einnimmt. Zum Abschluß kam diese Ent-
wicklung erst im 10. Jahrh. u. Chr. durch den
konfuzianischen Philosophen Chu-hi. Der Kon-
fuzianismus, wie er ihn auffaßte, ist seither die
von Staats wegen approbierte Doktrin geblieben.
Ein neues System hat Chuêhi nicht geschaffen.
Sein Ziel war darauf gerichtet, die konfuzianische
Lehre gegen feindliche Angriffe ein für allemal
sicherzustellen. Indem er die kanonischen und klas-
sischen Bücher als den Ausdruck einer widerspruchs-
losen und unfehlbaren, einheitlichen Lehre hinzu-
stellen suchte, welcher bindende Autorität zukommt,
gab er der konfuzianischen Lehre vom Staat und
der Gesellschaft einen ausgesprochen religiösen
Charakter. Die Staatslehre wurde Staatsreligion.
Die kanonischen und klassischen Bücher wurden!
(Ostasiatische Religionsgesellschaften.)
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schlechthin „heilige“ Bücher und als solche die
Bibel der orthodoxen Überlieferung. Mit dem
Kultus der Texte hielt der Kultus des Konfuzius
selbst gleichen Schritt. Schon längst werden ihm
nahezu göttliche Ehren in den seinem Namen ge-
weihten Tempeln und in dem ihm offiziell dar-
gebrachten Opfer erwiesen. Seine endgültige
Apotheose aber erlebte der Konfuzianismus im
Sinn des Chuhi, als er schließlich und feierlich
durch das „heilige Edikt“ des Kaisers Kanghi als
einzig gültige Norm des sittlichen Handelns unter
Ausschluß aller andern Lehren verkündet wurde.
Dazu erließ Kaiser Dung-Chung einen ausführ-
lichen Kommentar. Es ist ein völlig neuer Ton,
der aus dem heiligen Edikt herausklingt. So kann
nur vom Standpunkt einer Lehre geredet werden,
die als ein unfehlbares religiöses Dogma ange-
sehen wird. Am ersten und fünfzehnten Tag jeden
Monats wird in allen Städten des Reichs ein
Kapitel aus dem heiligen Edikt vorgelesen. Es hat
dadurch dem ursprünglich ethischen Lehrsystem des
Konfuzius den Charakter eines religiösen Kanon
endgültig aufgedrückt. Mit seiner Hilfe ist es der
konfuzianischen Orthodoxie gelungen, die Geister
ganz unter ihre Herrschaft zu bringen, aber doch
nicht so, daß jeder andere religiöse Einfluß un-
möglich gemacht war. Das Aufkommen anderer
Religionssysteme lag geradezu in der Schwäche der
konfuzianischen Staatsreligion begründet.
3. Taoismus und Buddhismus. Die
religiösen Begriffe hatten durch Konfuzius keine
Läuterung erfahren. Was dem Volk fehlte, war
eine positive Religion. Denn weder die alte
Reichsreligion noch die spätere konfuzianische
Staatsreligion können trotz der mit religiösem
Kult verehrten klassischen Bücher als solche be-
zeichnet werden. Dem religiösen Glaubens-
bedürfnis der Masse hatte Konfuzius nichts zu
bieten vermocht. Die Folge davon war die un-
gehinderte Verbreitung des Taoismus und Bud-
dhismus, aus deren Verschmelzung mit dem ur-
sprünglichen Naturkult und der Ahnenverehrung
der wüste Synkretismus des modernen Volks-
glaubens hervorgegangen ist. Der Taoismus
hat zum Begründer einen um wenige Jahre älteren
Zeitgenossen des Konfuzius, den Philosophen
Laotse. Der Grundbegriff und Ausgangspunkt
der ganzen Lehre des Laotse ist, wie schon aus
der Bezeichnung Taoismus ersichtlich, das Tao,
die erste Ursache und das letzte Ziel des Daseins.
Es drückt die ewig gleiche Ordnung und Gesetz-
mäßigkeit alles Seins aus. Aber Tao ist nicht
bloß kosmisches Prinzip, sondern zugleich die
Richtschnur des sittlichen Handelns. Wer sich in
seinem sittlichen Verhalten nach dem Tao richtet,
ist vollkommen. Dieser philosophische Taoismus
hat seinen Begründer nur um wenige Jahrhun-
derte überlebt. Die ganze Weltanschauung des
Laotse mit ihrem abstrakten Mystizismus war viel
zu sehr dem praktischen Leben und seinen Bedürf-
nissen abgewandt, um im Volk Wurzel zu fassen.