Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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nage ist ein Zusammenschluß von lolalen Ver- 
bänden, die jene Aufgaben auf sich genommen 
haben, zu deren Durchführung sowohl der Staat 
als die Gemeinden sich unzulänglich erwiesen haben. 
Patronage ist nämlich der gesetzlich anerkannte 
Obervormund der Waisen, deren Vormünder oder 
Pflegeeltern das ihnen anvertraute menschliche 
Gut mißhandeln und profanieren. Diese Kinder 
sowie die Lehrlinge, die von ihren Lehrherren be- 
drückt werden, stehen unter der schirmenden Auf- 
sicht des Comité Patronage. Arme, die durch 
Krankheit oder sonstige Gebreste arbeitsunfähig 
geworden sind, werden vom Patronage auf- 
gelesen. Sie werden von ihm in Armenhäuser 
oder Asyle gebracht. Arbeitsscheue und Land- 
streicher dagegen verfallen dem verfolgenden Arm 
und dem scharfen Auge des Instituts, das sie in 
streng geleitete Werkhäuser entsendet. Entlassene 
jugendliche Sträflinge, die den Willen zur Besse- 
rung bekunden und betätigen, werden nicht unter 
die verhängnisvolle, jedes Aufblühen des mensch- 
lichen Selbstbewußtseins vernichtende Polizeiauf- 
sicht gestellt, sondern unter die Fittiche des Patro- 
nage genommen, der ihnen Dienst oder Arbeit zu 
schaffen bemüht ist, der ihnen aber auch im Fall 
der Rezidive sein Wohlwollen entzieht, um die 
jungen Müßiggänger in Korrektionshäuser zu sper- 
ren.“ Hiermit ist schon die Vielseitigkeit der 
Zwecke angegeben, denen sich die Patronagen 
widmen. Wo es gilt, gegen eine selbstverschuldete 
oder unverschuldete Notlage Schutz angedeihen 
zu lassen, da ist das Arbeitsfeld der Patronage. 
Das Charakteristische besteht nicht in einem fest- 
begrenzten Zweck, sondern darin, daß Personen 
der höheren Stände, oft Angehörige des höchsten 
Adels, sich der Fürsorge für verschiedenartige Be- 
dürfnisse der lohnarbeitenden Klassen widmen. 
In einem engsten Sinn ist Patronage endlich 
Schutzfürsorge, die man der Jugend, ins- 
besondere der weiblichen Jugend, angedeihen läßt. 
Als Zweck der Patronage in diesem Sinn wird be- 
zeichnet: die jungen Leute der Arbeiterklasse, welche 
die Elementarschule verlassen haben und in die 
Lehre getreten sind, zu versammeln, sie an den 
Tagen der Muße von den Gefahren der Straße 
fern zu halten, ihre Kenntnisse zu vermehren, sie im 
sittlich-religiösen Leben zu stärken (Laumont 117). 
2. Geschichtliches. Der Boden, auf dem 
die Patronage in ihren mannigfachen Arten er- 
wuchs, ist Frankreich. Die Patronage im Sinn 
der Jugendfürsorge hat sich hier im Anschluß an 
die Vereine vom hl. Vinzenz von Paul entwickelt. 
Nicht ganz ein Jahr nach der Gründung der ersten 
Konferenz, im Jahre 1834, wurden drei arme 
Kinder in einem Haus an der rue des Fossés- 
Saint--Jacques zu Paris untergebracht. Alsbald 
(1836) trat eine Patronage für verwaiste Lehr- 
linge ins Leben. Diese genossen Unterhalt, Unter- 
richt und Erziehung. Zu diesen Kindern bzw. 
Jugendlichen gesellten sich jeden Sonntag eine stets 
wachsende Zahl von externen Lehrlingen, Kindern 
Patronage. 
  
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der Familien, die von den neugegründeten Vin- 
zentiuskonferenzen besucht und unterstützt wurden. 
Bald war das Hundert voll. Man gab ihnen 
das Abendessen, um sie möglichst lang zu be- 
halten. Die Mitglieder der Konferenz teilten sich 
in die Aufgaben der Leitung dieser Patronage. 
Kirchenbesuch, Spiele, Spaziergänge wechselten 
ab. Eine Hauptaufgabe der Patronage war es, die 
Lehrlinge bei christlichen Meistern unterzubringen 
und ihre Interessen beim Abschluß des Lehrlings- 
kontraktes zu wahren. Für jeden Lehrling ward 
ein Patron bestellt, der ihn wöchentlich wenigstens 
einmal in seiner Werkstätte besucht, um sich zu 
überzeugen, daß der Vertrag gewissenhaft ein- 
gehalten wird. Die Hauptsache war, die jungen 
Leute zum Besuch der Patronage anzulocken. Es 
mußte ihnen etwas geboten werden, wenn sie die 
Patronage andern Belustigungen vorziehen sollten. 
Abgesehen von Religions= und sonstigem Unter- 
richt erhielten die Schützlinge am Sonntag auch 
Verköstigung; von Zeit zu Zeit wurden Vertei- 
lungen von Kleidungsstücken vorgenommen. Vor 
allem war es wichtig, der Jugend Unterhal- 
tung durch abwechslungsreiche Spiele, Lektüre 
und Ausflüge zu verschaffen. Zu der Patronage 
des apprentis trat 1860 eine Patronage des 
6coliers, die den Zweck verfolgte, schulpflichtige 
Kinder vor den schlimmen Einflüssen der Straße 
zu bewahren und für die Lehrlingspatronagen 
einen tüchtigen Nachwuchs heranzubilden. 
Die Zahl der Patronagen wuchs wie ihre Auf- 
gaben, die sich immer mehr spezialisierten. Frank- 
reich und Belgien haben das Patronagewesen zu 
großer Entwicklung gebracht, und zwar haben 
nicht bloß die Katholiken, sondern auch die Pro- 
testanten und Israeliten Patronagen ins Leben 
gerufen. Daneben gibt es auch solche, die keinen 
konfessionellen Charakter besitzen. Es gibt Patro- 
nagen, die sich der schulpflichtigen Jugend an- 
nehmen, sie an schulfreien Tagen sammeln; andere 
wieder widmen sich der reiferen Jugend männ- 
lichen und weiblichen Geschlechts (Lehrlingen und 
jungen Arbeitern), versammeln sie an manchen 
Wochentagen nach der Arbeit bis zum späten 
Abend, um sie gerade zur Abendstunde den schlim- 
men Einflüssen der Straße zu entziehen; wieder 
andere nehmen sich um solche an, deren Sittlich- 
keit schon Schaden gelitten hat, z. B. um die 
verwahrloste Jugend, entlassene Sträflinge usw. 
Die Patronagen werden vielfach von religiösen 
Vereinen oder Orden ins Leben gerufen und ge- 
leitet. Sie bestehen entweder völlig unabhängig 
voneinander oder sind in größeren Verbänden 
zusammengeschlossen. So sind die verschiedenen 
Patronagen für die männliche Jugend, welche der 
Vinzenzverein in Lüttich gegründet hat, unter 
einem Zentralkomitee vereinigt (Laumont 118). 
Die Schützlinge sind, entsprechend den Alters- 
stufen, in Sektionen abgeteilt und rücken von der 
einen in die andern auf. Die Kosten werden durch 
Mitgliederbeiträge und charitative Gaben auf-
	        
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