571 Religionsgesellschaften.
dem einzelnen, daß z. B. das neugeborne Kind im
Schintotempel den Schutzgeistern dargebracht und
in das Tempelregister eingetragen wird. Stirbt
es eines Tages, so vollziehen buddhistische Priester
die Totengebräuche. Trotzdem kann der Schin-
toismus, insofern er den Inbegriff der altnatio-
nalen Überlieferung darstellt, die in der Verehrung
des Mikado den Glauben an die göttliche Ab-
stammung des Reichsoberhaupts fortpflanzte, als
die eigentlich nationale und in gewissem Sinn
auch als die japanische Staatsreligion angesehen
werden.
1. Die Nationalreligion. Der bemerkens-
werteste Zug des Schintoismus ist die göttliche
Verehrung der Geister der Ahnen, zu denen die
deifizierten Geister berühmter Fürsten, Helden,
Gelehrter sich gesellen. Daneben füllen Legionen
untergeordneter Götter das Pantheon des Volks.
Man kann diesen Dienst der Geister indes nur im
beschränkten Sinn Religion nennen; denn eigent-
lich gehen ihm die wesentlichen Merkmale einer
solchen, eine bestimmte Glaubens= und Sitten-
lehre ab. Das einzig Greifbare des Schintoismus
ist sein ausgebildetes Ritual. Der Kultus der
Geister zeigt sich in Opfern, welche von einer Art
Liturgie begleitet werden, die Norito heißt. Die
Liturgie richtet sich an die deifizierten Geister.
Hervorragende Eigenschaften geben ein gewisses
Anrecht auf die Apotheose. Wer sich durch große
Tapferkeit, Gelehrsamkeit und Wohltätigkeit aus-
zeichnet, wird nach seinem Tod unter die Götter
versetzt. Und noch heute ist es das Vorrecht des
Mikado, auf Antrag des Geheimen Rats den
Rang zu bestimmen, welchen ein solcher in dieser
neuen Gesellschaft einzunehmen hat. Die letzte
Deifikation von Bedeutung war die des kaiser-
lichen Prinzen Kitashirakawa, der im Kampf um
die Unterwerfung Formosas starb und jetzt in
einem besondern Heiligtum daselbst als Schutz-
gottheit des neu gewonnenen Territoriums ge-
feiert wird. Die schintoistischen Heiligtümer zer-
fallen in zehn Gruppen, an deren Spitze das Na-
tionalheiligtum von Ise steht. Die Schreine der
deifizierten Staatsmänner, Feldherren, Gelehrten
bilden eine besondere offizielle Gruppe. Als Aus-
druck der nationalen Überlieferung steht der Schin-
toismus unter der besondern Überwachung der im
Kaiser verkörperten höchsten Staatsgewalt, welche
durch die Kultusabteilung des Ministeriums des
Innern die Oberaufsicht über die Tempel und
Priester führt. Am 31. Dez. 1900 besaß der
Schintoismus im ganzen 138 287 Heiligtümer,
darunter Tempel ersten Rangs, die Staatseigen-
tum waren 169, zweiten Rangs, die Privateigen-
tum sind 57 902, mit einem Kultuspersonal von
101 142 Köpfen.
2. Einfluß des Buddhismus. Einen
besondern Einfluß hat auf den Schintoismus die
politische Moral des Konfuzius ausgeübt, einen
noch größeren jedoch der Buddhismus, der über
Korea von China aus im 6. Jahrh. n. Chr. in
(Ostasiatische Religionsgesellschaften.)
572
Japan eindrang. Sich den alten nationalen An-
schauungen des Geisterkultus anpassend, verbreitete
er sich sehr rasch und wurde bald die eigentliche
Volksreligion der Japaner, unbeschadet des
nationalen Vorrangs des Schintokultus. Die
zwölf Sekten, in welche heute der japanische Bud-
dhismus zerfällt, besaßen im Jahr 1900 71951
Tempel mit 196740 Priestern. Die Schinsekte
hat gegenwärtig unter ihnen das meiste Ansehen.
Der Einfluß des Buddhismus auf den Schin-
toismus zeigt sich besonders in der Götterlehre
und im Tempelbau. Buddhisten und Schintoisten
tauschen ihre Götter und Geister aus. Die all-
mähliche Entartung des Buddhismus hat durch
die Entwicklung eines groben Götzendienstes den
Schwarm ungezählter höherer und niederer Gott-
heiten in die japanischen Heiligtümer eingeführt,
deren bedeutendste sich in der ehemaligen kaiser-
lichen Residenz Kioto befinden. Dem krassesten
Götzenbilderkultus parallel läuft die Nährung des
Aberglaubens und die Ausbeutung der leichtgläu-
bigen Menge durch die Bonzen. Wenige unter
den Bonzen der verschiedenen Sekten verstehen die
Geschichte und Lehre ihrer Religion. Die meisten
begnügen sich auch heute mit zum Teil lächerlichen
Observanzen. Die, ebenfalls in religiösen Dingen
sehr unwissende, abergläubische Menge des Volks
aber fesselt der äußere Pomp der vielen Zeremo-
nien. Die staatliche und politische Umwälzung
von 1868 wurde auch für den Buddhismus ver-
hängnisvoll. In dem Bestreben, das Ansehen des
Mikado zu fördern, wurde dem Kamidienst ein
neuer Aufschwung gegeben. Der Schintoismus
sollte Staatsreligion, der Buddhismus nur ge-
duldet werden. Viele buddhistische Tempel und
Klöster, ja bedeutende Wallfahrtsorte wurden über
Nacht schintoistisch. Bei andern wurden die Ein-
künfte auf Sporteln und milde Gaben reduziert.
Das gemeine Volk, dem Buddhismus zugetan,
sah die Entfernung seiner Götter mit Bedauern,
fügte sich aber, Jahrhunderte an sklavische Unter-
würfigkeit gewöhnt, überall dem Befehl. Mit der
Wiederbelebung des Schintoismus als Religion
hat nun zwar die Regierung wenig Glück gehabt;
es ist ihr so wenig gelungen, den Buddhismus
durch den Kamidienst zu verdrängen, daß vielmehr
umgekehrt der Buddhismus zu neuen Anstren-
gungen sich aufgerafft, um seinen Einfluß beim
Volk zu sichern. Es scheint heute umgekehrt das
deutliche Streben der politischen Machthaber zu
sein, den Schintoismus als Inbegriff der alt-
nationalen Überlieferungen seines religiösen
Charakters zu entkleiden, um dadurch seine Ge-
bräuche zu einem rein bürgerlichen, ausschließlich
nationalen Kult zu machen, an dem nach ihrer
Auffassung jeder Japaner ohne Unterschied der
Religion und des Bekenntnisses teilnehmen darf.
Das Ziel ist ein ausgesprochen japanisch natio-
nales. Es wird ebensowenig erreicht werden wie
die versuchte Reform und Neubelebung des Bud-
dhismus.