Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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leitung zum Abfall vom Christentum oder zur 
Verleugnung aller Religion (bzw. Verbreitung 
von Unglauben) oder zur Annahme einer der christ- 
lichen Religion widerstrebenden Irrlehre oder die 
Stiftung einer Sekte, und diese Strafbestimmungen 
sind erst durch Gesetz vom 25. Mai 1868 auf- 
gehoben worden; noch in dem Entwurf von 1868 
sollte der Atheismus dadurch getroffen werden, daß 
der Gotteslästerung der Fall gleichgestellt wurde, 
wenn jemand öffentlich von dem Glauben an Gott 
abwendig zu machen sucht. Dagegen legte das 
preußische Allgemeine Landrecht von 1794, TIII, 
Tit. 20, §§ 223/225 das Schwergewicht auf die 
mutmaßlichen Wirkungen der Irrlehren, indem es 
vorschrieb: Wenn jemand sich zum Stifter einer 
Sekte aufwirft, deren Lehrsätze die Ehrfurcht gegen 
die Gottheit, den Gehorsam gegen die Gesetze oder 
die Treue gegen den Staat offenbar angreifen 
oder das Volk zu Lastern geradezu verleiten, so 
soll er in eine öffentliche Anstalt gebracht und dort, 
bis er durch Belehrung oder körperliche Heilungs- 
mittel gebessert ist, festgehalten werden; liegt einer 
solchen Sektenstiftung die Absicht des Betrugs oder 
der Befriedigung von Leidenschaften zugrunde, 
so soll der Sektenstifter mit ein= bis dreijähriger 
Festungs= oder Zuchthausstrafe belegt und aus 
dem Schauplatz seiner Tätigkeit verbannt, bei 
Rückfall aber lebenslänglich auf der Festung ver- 
wahrt werden. Wieder anders verhält sich das 
bayrische Strafgesetzbuch von 18 13, Art. 325, 417, 
welches bei „unschuldigen Religionsmeinungen“ 
die Strafbarkeit abhängig macht von der Art und 
Weise der Verbreitung, insbesondere das Predigen 
auf öffentlichen Plätzen, Aufreizen zu Feindselig- 
keiten gegen Anderedenkende und Abhaltung vom 
gesellschaftlichen Verkehr mit andern als Unruhe- 
stiftung mit ein= bis sechsmonatigem Gefängnis 
bestraft. 
2. Ein neues Delikt bildet die Störung des 
Religionsfriedens. Die politischen Verhältnisse 
hatten zur Vereinigung von Ländern mit ver- 
schiedener, durch den Westfälischen Frieden ge- 
schützter Religionsübung geführt; neuere Landes- 
gesetze enthalten daher Strafbestimmungen gegen 
die Störung des friedlichen Nebeneinanderlebens 
der verschiedenen im Staat zu Recht bestehenden 
oder auch nur tatsächlich geduldeten Religions-= 
gesellschaften. So droht das preußische Allgemeine 
Landrecht (TI II, Tit. 20, 88 214, 227, 228) 
Freiheitsstrafen gegen diejenigen an, welche die im 
Staatausgenommenen Religionsgesellschaften durch 
Lästerungen in öffentlichen Reden oder Schriften 
oder durch entehrende Handlungen oder Gebärden 
beleidigen, Freiheitsstrafen und Amtsentsetzung 
gegen diejenigen, welche in Predigten oder andern 
öffentlichen Reden Haß und Verbitterung unter 
den verschiedenen im Staat ausgenommenen Reli- 
gionsparteien zu erregen suchen, endlich Orts- 
verweisungen gegen diejenigen, welche aus übel- 
verstandenem Religionseifer zwischen Eheleuten 
oder Eltern und Kindern verschiedener Religion 
Religionsverbrechen. 
  
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Mißtrauen und Uneinigkeit anrichten. Ebenso be- 
stimmt das bayrische Strafgesetzbuch von 1813, 
daß ein Prediger, welcher in öffentlichen Vorträgen 
oder Schriften durch Schmähungen oder gehässige 
Beschuldigungen zwischen den im Staat aufgenom- 
menen oder geduldeten kirchlichen Gesellschaften 
Religionshaß zu wecken oder zu unterhalten sucht, 
seines Amts entsetzt (Art. 326), und daß, wer in 
eine Kirche oder in einen andern religiösen Ver- 
sammlungsort zur Zeit des Gottesdienstes gewalt- 
tätig einfällt und die Religionsdiener tätlich miß- 
handelt oder durch Zwang und Gewalt gottes- 
dienstliche Verrichtungen zu verhindern sucht, mit 
zwei= bis sechsjährigem Arbeitshaus (Art. 336) 
bestraft werden soll. 
3.Die Störung des Gottesdienstes, soweit solche 
nicht in eine Störung des Religionsfriedens über- 
geht, wird partikularrechtlich erheblich milder be- 
straft als nach gemeinem (römischem) Recht. Das 
preußische Landrecht (§ 215, 216) bedroht mit 
Freiheitsstrafe von 6 Wochen bis 18 Monaten, 
wer den öffentlichen Gottesdienst stört oder die in 
dessen Feier begriffene Gemeinde oder deren mit 
solchen Amtshandlungen beschäftigten Lehrer mit 
Worten oder Tätlichkeiten angreift. Das bayrische 
Strafgesetzbuch von 1813, Art. 424, läßt Ge- 
fängnisstrafe von 1 bis 6 Monaten eintreten, 
wenn jemand den Religionsdiener während seiner 
Amtsverrichtung oder die versammelte Gemeinde 
selbst mit Störung des Gottesdienstes beleidigt. 
Das österreichische Strafgesetzbuch von 1803, 
§ 107, bedroht mit Kerkerstrafe von 6 Monaten 
bis zu 10 Jahren (die Störung des Religions= 
friedens mitumfassend), wer eine im Staat be- 
stehende Religionsübung stört oder durch ent- 
ehrende Mißhandlung an den zum Gottesdienst 
gewidmeten Gerätschaften oder sonst durch Hand- 
lungen, Reden, Schriften öffentlich der Religion 
Verachtung bezeigt. 
4. Bezüglich der Gotteslästerung bezeichnet 
den Wendepunkt in der Gesetzgebung das Straf- 
gesetzbuch Josephs II. von 1787, § 61, welches 
anordnet, daß der Gotteslästerer in ein Irrenhaus 
verbracht, nicht gestraft werden solle. Das preu- 
ßische Allgemeine Landrecht (§ 217) bedroht als 
eine Beleidigung der Religionsgesellschaften mit 
Gefängnis von 2 bis 6 Monaten: wer durch 
öffentlich ausgestoßene grobe Gotteslästerungen zu 
einem gemeinen Argernis Anlaß gibt; dabei soll 
der Verurteilte über seine Pflichten belehrt und 
beim Rückfall unter Verdopplung der Strafe ver- 
pflichtet werden, den Vorstehern der Gemeinde 
nach erfolgter Belehrung durch einen Lehrer seiner 
Religionspartei wegen des gegebenen Argernisses. 
Abbitte zu leisten. Das österreichische Strafgesetz- 
buch von 1803, Art. 107, rechnet die Gottes- 
lästerung zur Religionsstörung. Das bayrische 
Strafgesetzbuch von 1813 kennt das Verbrechen 
der Gotteslästerung (wie der Code pénal) nicht 
mehr; diese auffällige Lücke ist aber in der späteren 
bayrischen (und französischen) Gesetzgebung er-
	        
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