Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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des amtierenden Religionsdieners, z. B. in der 
Predigt, ist beim Vorliegen eines rechtswidrigen 
Angriffs Notwehr in Form eines abwehrenden, 
an sich den Gottesdienst störenden Zwischenrufs 
gestattet (Reichsgerichtserkenntnis vom 24. Nov. 
1890); freilich wird, da der Geistliche zur Hand- 
habung der Kirchenzucht berufen, daher zu Vor- 
haltungen und Rügen befugt, unter Umständen 
sogar verpflichtet ist, hier nur in den allerselten- 
sten Fällen („insofern das Vorhandensein einer 
Beleidigung aus der Form der Außerung oder 
aus den Umständen, unter welchen sie geschah, 
hervorgeht“, St.G.B. § 193) von einem rechts- 
widrigen Angriff gesprochen werden können. 
Auch in ihrem abgeschwächten Inhalt bilden 
die Religionsverbrechen einen Hauptangriffspunkt 
für den Radikalismus; neuerdings ist es vor 
allem die Strafbestimmung gegen Beschimpfung 
der Religionsgesellschaften, welche mancherlei An- 
sechtungen zu erfahren hat. Zunächst richteten sich 
die Angriffe gegen die Privilegierung der mit 
Korporationsrechten ausgerüsteten Religionsgesell- 
schaften, indem geltend gemacht wurde, jedes, nicht 
bloß das vom Staat gebilligte religiöse Gefühl 
müsse gleichmäßig geschützt werden. Gegen diese 
Forderung führten schon die Motive des Reichs- 
strafgesetzbuchs aus, daß „mit einer Aufhebung 
jener Beschränkung der Gesetzgeber einen Anspruch 
auf strafrechtlichen Schutz auch da zugestände, wo 
jede Gewähr dafür fehlt, ob eine diesen Schutz in 
Anspruch nehmende angeblich religiöse Vereinigung 
auch wirklich den Charakter einer solchen bean- 
spruchen dürfe und nicht vielmehr in die Reihe 
nicht-religiöser Vereine zu verweisen sei“. Seit 
dem Jahr 1887 lauten die Angriffe umgekehrt, 
die Strafbestimmung gehe zu weit, sie wirke auch 
bezüglich der von ihr geschützten Religionsgesell- 
schaften ungleich und sei gänzlich aufzuheben. Die 
Verurteilung des Pastors Thümmel (s. unter 
Literatur) veranlaßte den Evangelischen Bund, 
eine mit mehr als 30 000 Unterschriften versehene 
Petition an den Reichstag zu richten mit dem 
Verlangen, in 8 166 des Reichsstrafgesetzes die 
Worte: „Wer öffentlich eine der chhristlichen 
Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten 
innerhalb des Bundesgebiets bestehende Religions- 
gesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche 
beschimpft, ingleichen —“ zu streichen. Die Pe- 
tition wurde dem Reichstag in den Sessionen 
1888/89, 1889/90, 1891/92 und 1893/94 vor- 
gelegt; gegen die Petition sprachen sich nicht nur 
konservative Blätter aus, wie „Kreuzzeitung“ und 
„Reichsbote“, sondern auch die „Norddeutsche 
Allgemeine Zeitung“ und die „Nationalliberale 
Korrespondenz“. Die Petitionskommission des 
Reichstags erklärte am 16. März 1892 die Pe- 
tition für ungeeignet zur Erörterung im Plenum, 
weil sie ein geeignetes Material zu gesetzgeberischen 
Anderungen nicht enthalte. Im Plenum des 
Reichstags kam die Frage erst gelegentlich der Be- 
ratung über den Initiativantrag des Zentrums, 
  
Religionsverbrechen. 
  
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betreffend die Aufhebung des Jesuitengesetzes, am 
1. Dez. 1893 zur Erörterung; die freisinnigen 
Abgeordneten Richter und Rickert forderten die 
Beseitigung der in der Petition des Evangelischen 
Bundes angegriffenen Gesetzesworte, weil nur so 
eine unbegrenzt freie Kritik aller religiösen Be- 
strebungen und eine Bekämpfung der rückkehren- 
den Jesuiten möglich sei. Gegen diesen Antrag 
erklärten sich aber nicht nur die Redner der Zen- 
trumsfraktion, sondern auch vom Standpunkt der 
gläubigen Protestanten die Redner der beiden kon- 
servativen Fraktionen, und der Antrag wurde 
vom Reichstag mit einer an Einstimmigkeit gren- 
zenden Mehrheit gegen einen Teil der beiden 
freisinnigen Fraktionen abgelehnt. — Noch weiter 
als der Evangelische Bund ging der Deutsche 
Freidenkerbund, welcher in der Session 1890/92 
in einer mit 17000 Unterschriften versehenen Pe- 
tition an den Reichstag die völlige Aufhebung 
des § 166 des R. St.G.B., auch der Straf- 
bestimmung gegen die Gotteslästerung, als das 
„Uberbleibsel eines mittelalterlichen, unduldsamen 
Geistes“ forderte. Der Reichstag beschloß jedoch 
am 30. März 1892 ohne Debatte, diese Petitionen 
„für ungeeignet zur Erörterung im Plenum“ zu 
erklären. In der Session 1893/94 liefen aber- 
mals derartige Freidenkerpetitionen beim Reichs- 
tag ein, welche nicht zur Erledigung gelangten. 
Die in der Session 1894/95 teilweise wieder dem 
Reichstag vorgelegten Freidenkerpetitionen wurden 
der zur Vorberatung der sog. Umsturzvorlage ein- 
gesetzten Kommission überwiesen und fanden ihre 
Erledigung mit der Ablehnung sämtlicher Kom- 
missionsanträge zu jener Vorlage am 11. Mai 
1895. Die Kommission hatte übrigens nicht die 
Aufhebung des § 166, sondern dessen Erweiterung 
beantragt („Wer öffentlich in beschimpfenden 
Außerungen den Glauben an Gott oder 
das Christentum angreift oder Gott 
lästert, oder wer öffentlich eine der christlichen 
Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten 
innerhalb des Bundesgebiets bestehende Religions- 
gesellschaft, ihre Lehren, Einrichtungen oder 
Gebräuche beschimpft usw.). 
Seit der Reichstagssession 190 3/0 setzte eine 
Petitionsbewegung der protestantischen Kreissyn- 
oden Stadt Berlin II, Stadt Berlin III und 
Landeshut ein, welche in § 166 die Streichung der 
Worte „oder ihre (sc. der Religionsgesellschaf- 
ten) Einrichtungen oder Gebräuche"“ verlangte. 
Diese Petitionen sind im Reichstag zunächst in 
der Session 1903/04 nicht zur Behandlung ge- 
langt, in den Sessionen 1905/06 und 1907/09 
aber vom Reichstag für ungeeignet zur Erörte= 
rung im Plenum erklärt worden; sogar der Block- 
reichstag hat am 19. April 1907 diese Erklärung 
beschlossen. Außerdem haben die freisinnigen Ab- 
geordneten Dr Ablaß und Genossen am 11. Jan. 
1905 beim Reichstag einen Initiativantrag ein- 
gereicht, welcher die Streichung des gesamten auf 
die Beschimpfung der Religionsgesellschaften be-
	        
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