619
züglichen Tatbestands des § 166 forderte; dieser
Antrag kam jedoch nicht zur Beratung. Dieselbe
Forderung erhob am 23. Mai 1907 der 23.
Deutsche Protestantentag in Wiesbaden und am
30. Sept. 1907 die Generalversammlung des
Evangelischen Bundes in Worms. Nicht wenige
Gerichtsverhandlungen wegen Beschimpfung der
katholischen Kirche gaben, wenngleich sie vielfach
mit Freisprechung endeten, der Bewegung immer
neue Nahrung. Aus dem Streit um die Anwen-
dung des Strafgesetzes wurde in der öffentlichen
Erörterung mehr und mehr ein Kampf gegen die
katholische Kirche, in welchem nicht mehr die
Fragen des Rechts, sondern die konfessionellen
Vorurteile den Ausschlag gaben.
Der Niederschlag dieser seit beinahe einem Vier-
teljahrhundert betriebenen Agitation, die eine kaum
übersehbare Masse von Abhandlungen, Broschüren
und Zeitungsartikeln hervorrief, zeigt sich in den
Vorarbeiten zu einem neuen Strafgesetzbuch für
das Deutsche Reich. In der auf Anregung des
Reichsjustizamts von mehreren Professoren her-
ausgegebenen „Vergleichenden Darstellung des
deutschen und ausländischen Strafrechts“ hat im
Jahr 1906 der Kirchenrechtsprofessor Kahl das
gesetzgeberische Material über die Religionsdelikte
ganz im Sinn der von protestantischer Seite auf-
gestellten Forderungen bearbeitet. Seinen Vor-
schlägen folgt in wesentlichen Punkten der im
Jahr 1909 auf Anordnung des Reichsjustizamts
veröffentlichte „Vorentwurf zu einem deutschen
Strafgesetzbuch". Die Bestimmungen des Vor-
entwurfs gegen die Gotteslästerung und gegen die
Beschimpfung von Religionsgesellschaften lauten:
„§ 155: Wer öffentlich und böswillig in be-
schimpfender Weise Gott lästert, wird mit Ge-
fängnis oder Haft bis zu zwei Jahren bestraft.
5 156: Wer öffentlich und böswillig eine der
christlichen Kirchen oder eine andere mit Körper-
schaftsrechten innerhalb des Reichsgebiets bestehende
Religionsgesellschaft beschimpft, wird mit Gefäng-
nis oder Haft bis zu zwei Jahren oder mit Geld-
strafe bis zu 3000 M bestraft.“ Die Streichung
der „Einrichtungen und Gebräuche“ der Reli-
gionsgesellschaften soll, wie die Begründung des
Vorentwurfs (S. 515) bemerkt, der „ungleichen
Behandlung der Religionsgesellschaften“ ein Ende
machen, „da nicht für alle diese Gesellschaften die
Einrichtungen und Gebräuche von gleicher Be-
deutsamkeit sind und für einige in viel höherem
Grad andere Dinge in Betracht kommen, z. B.
die Stifter der Religionsgesellschaften oder die
Lehren“. Der Vorentwurf „geht im Einklang
mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts davon
aus, daß die Beschimpfung einer Religionsgesell-
schaft nicht notwendig unmittelbar auf diese selbst
sich zu beziehen brauche, sondern auch dann vor-
liegen könne, wenn sich der Angriff unmittelbar
nur gegen gewisse, das Wesen der Religions-
gesellschaft im innersten Kern berührende Dinge
richte. Von diesem Standpunkt aus erscheint die
Religionsverbrechen.
620
besondere Hervorhebung der Einrichtungen und
Gebräuche nicht erforderlich und schon insofern
nicht ohne Bedenken, als dadurch die nach Lage
der Sache gebotene Annahme einer mittel-
baren Beschimpfung bei Angriffen auf an-
dere Dinge als auf Einrichtungen oder Ge-
bräuche der Absicht des Gesetzes widersprechend
erschwert wird. Vor allem aber wird durch
die besondere Hervorhebung der Einrichtungen
und Gebräuche der Anschein erweckt, als ob diese
ein selbständiges Schutzobjekt bildeten und ihre
Beschimpfung auch dann unter Strafe gestellt
werden sollte, wenn darin eine mittelbare Be-
schimpfung der Religionsgesellschaft nicht zu er-
blicken ist". Die schon bisher mögliche, aber an-
geblich „erschwerte“ Bestrafung der mittelbaren
Beschimpfung der Religionsgesellschaften, begangen
durch Beschimpfung ihrer „Stifter“, z. B. der
Reformatoren, soll also künftig erleichtert werden.
Schwerwiegender ist die vorgeschlagene Anderung
des subjektiven Tatbestands und des Strafmaßes.
Die Begründung des Vorentwurfs erläutert das
Erfordernis der Böswilligkeit bei der Beschimp-
fung von Religionsgesellschaften dahin: „Mit
Recht ist [von Kahl] darauf hingewiesen wor-
den, daß Fälle, in denen zgguter Glaube,
ehrliche Absicht, heiliger Zorn,
stürmischer Wahrheitsdrang, reli-
giöse Erregung das Wort auf die Lippen
gelegt haben", nicht getroffen werden dürften. Der
Entwurf hat daher, wie im § 155, so auch hier
das Wort „böswillig“ eingefügt. Danach soll das
bloße Bewußtsein des beschimpfenden Charakters
der Kundgebung nicht ausreichen, vielmehr er-
fordert werden, daß die Handlung des
Täters direkt auf die Beschimpfung
der Religionsgesellschaft abzielt und
daß der Täter in dieser Handlung seine
Befriedigung suchen muß.“ Bei der
Gotteslästerung führt die Begründung zur Recht-
fertigung des neuen Vorschlags (S. 511) an:
„Nach dem bisherigen Gesetz wird in subjektiver
Beziehung auf seiten des Täters Vorsatz voraus-
gesetzt. Es genügt also der auf die Kundgebung
gerichtete Wille, verbunden mit dem Bewußtsein
von der Eigenschaft der Außerung als einer be-
schimpfenden. Daß der Täter gerade die Absicht
gehabt habe, das, was Achtung und Verehrung
fordert, verächtlich zu machen und herabzuziehen,
wird nicht verlangt. Damit ist grundsätzlich auch
der sog. eventuelle Vorsatz zugelassen.“ Das Er-
fordernis der Böswilligkeit dagegen bedeute: „Der
Endzweck des Täters muß darauf gerichtet sein,
zu lästern. Der Täter muß in der Hand-
lung seine Befriedigung, sein Ge-
nügen suchen; er muß also die Handlung in
frevelhafter Absicht vornehmen.“ Eine Definition
des Begriffs der „Böswilligkeit“ stellt der Vor-
entwurf nirgends auf; nur in der Begründung
des Allgemeinen Teils findet sich (S. 212) die
Stelle: „Eine Unterart der Absichtlichkeit ist die