Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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solche Rechtsmittel, denen die Natur von „Zwangs- 
mitteln ohne Krieg“ innewohnen soll, kein Raum. 
Erst in der spätrömischen Zeit erscheint die Macht 
des absoluten Staats beschränkt durch die unter 
dem Einfluß der christlichen Weltanschauung zu 
immer größerer Gelltung gelangte Selbständigkeit 
der Einzelperson, der Familie, der Korporation 
und Stammesverbindung. Eine Folge hiervon 
war auch die Anerkennung von Eigenrechten dieser 
sozialen Gebilde und ihrer selbständigen Wehr- 
haftigkeit. So entstand das Repressalienrecht, von 
der Kirche nicht unbedingt, sondern nur in seinen 
Ausschreitungen bekämpft, vom Staat an seine 
Genehmigung und Überwachung gebunden. So- 
nach begegnet man schon im 12. Jahrh. der Rechts- 
übung, daß vor Ergreifung von Repressalien (im 
kanonischen Recht auch pignorationes ge- 
nannt) eine Verhandlung vor den Friedenerichtern 
(conservatores pacis) stattzufinden habe. Nur 
dann und dort, wo das Mittleramt derselben 
fruchtlos geblieben war, konnte der Kläger er- 
mächtigt werden, sich für das ihm von den Unter- 
tanen eines fremden Landesherrn zugefügte Un- 
recht an Leib, Leben, Freiheit, Vermögen auf 
eigne Faust Genugtuung und Schadloshaltung 
zu verschaffen, und zwar auf Grund eines Frei- 
briefs, der marcha. Diese Art Markebriefe 
(ettres de marque ou de représailles) gaben 
das Recht zur Wegnahme der Güter des Gegners 
innerhalb des Gebiets der den Markebrief ver- 
leihenden landesherrlichen Gerichtsgewalt wie auch 
von Fahrzeugen und ihrer Fracht auf offener See. 
In diesen Kampf ums Recht Maß und Regel zu 
bringen, bezweckten die Statuarrechte, namentlich 
jene der lombardischen Städte. Sie enthalten 
genaue Bestimmungen über die Ausübung des 
Repressalienrechts, die aktive Legitimation hierzu, 
die zulässigen Fälle der Repressalienübung, die 
Nachsuchung derselben bei der Obrigkeit, die 
Prüfung der Ansprüche des Klägers und das 
rechtliche Gehör des Beklagten. Die litterae 
repraesaliarum ermächtigten den Beschädigten 
zur Wegnahme von Geiseln, zur Pfändung von 
Gegenständen, zur Besitzergreifung von unbeweg- 
lichem Gut bis zur vollen Befriedigung seines 
Rechtsanspruchs (Patent Eduards III. von Eng- 
land 1344 und Parlamentsakte von 1353; Edikt 
Karls VIII. von Frankreich 1485; die nieder- 
ländischen Edikte aus dem 15. Jahrh.). 
Da Akte der Selbsthilfe auch wegen ge- 
ringfügiger Rechtskränkungen immer zahlreicher 
wurden und den allgemeinen Landfrieden fort- 
während störten, traf man in den Waffen- 
stillstands= und Friedensverträgen des 15. und 
16. Jahrh. Vorsorge, private Repressalienakte 
möglichst zu erschweren und nur im Fall einer 
nachgewiesenen Verweigerung des rechtlichen Ge- 
hörs zu gestatten. Da insbesondere im See- 
verkehr unter dem Vorwand von Repressalien 
Seeräuberei betrieben wurde, sollten alle Schiffe, 
welche aus Häfen ausliefen, Kaution stellen, daß 
Repressalien. 
  
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sie keine Repressalien ausüben werden, weder im 
eignen Namen noch für Rechnung und Gefahr 
eines andern. Die Ordonnance de la marine 
vom Aug. 1681 handelt in Buch 3, Tit. 10 von 
den Marke= und Repressalienbriefen, insbesondere 
von der kurzen mündlichen Vorverhandlung (pro- 
ès verbal) beim Admiralitätsgericht über den 
Wert der weggenommenen Sachen, von der Form 
und dem Inhalt der Repressalienbriefe, der Ver- 
pflichtung, den Markebrief in das Register des 
Marineamts eintragen zu lassen und Kaution bis 
zur Hälfte des Werts der weggenommenen Gegen- 
stände zu leisten usw. Die zur See auf Grund 
von Repressalienbriefen weggenommenen Handels- 
schiffe und Handelsgüter sollten nach den Grund- 
sätzen über die Ausübung des Prisenrechts im 
Seekrieg behandelt werden. War die Prise für 
gerechtfertigt erklärt worden, so wurde die öffent- 
liche Versteigerung derselben bewerkstelligt, dem 
Repressaliennehmer die ihm im Markebrief zuer- 
kannte Entschädigung ausgefolgt und der etwaige 
Überschuß für den Eigentümer des aufgegriffenen 
Guts nach Abzug der Kosten des Verfahrens 
hinterlegt. Es kam nicht selten vor, daß Repres- 
salienbriefe an Order gestellt wurden und in sol- 
cher Weise übertragbar waren, daß ferner der- 
jenige, gegen welchen ein Repressalienbrief erlassen 
worden, mit einem Gegenbrief sich zu schützen 
suchte. Diese lettres de contremarque wurden 
gegen diejenigen gerichtet, welche die bezüglichen 
lettres de marque ausgestellt hatten. Der in 
solcher Art gestattete kleine Krieg war unter den 
zahlreichen Republiken und Souveränitäten, na- 
mentlich auf der italienischen Halbinsel, ein fort- 
währender, und es ist erklärlich, daß, als im Zeit- 
alter des Humanismus die Idee der Geschlossen- 
heit und Einheitlichkeit des antiken Staats neuen 
Boden gewann, die Erteilung von Repressalien- 
briefen ausschließlich Sache der landesherrlichen 
Gewalt wurde, ebenso die Ausstellung von Schutz- 
briefen an gewisse Personenklassen: Geistliche, Ge- 
sandte, Pilger, Gerichtspersonen und Gerichts- 
zeugen, Heil- und Wundärzte, Magister und fah- 
rende Schüler, Geldwechsler und Kaufleute usw. 
Stufenweise vollzog sich die Umwandlung der 
alten Repressalienpraxis in ein Verfahren des 
öffentlichen Rechts. Repressalien wurden nunmehr 
vom Staat angeordnet und in Vollzug gesetzt, 
sei es daß eine Verletzung des Gewohnheits= oder 
des Vertragsrechts erwiesen war. Das privat- 
rechtliche Interesse tritt zurück vor dem öffent- 
lichen. Nicht bloß um Schadenersatz und Genug- 
tuung allein handelt es sich, sondern um die 
zwangsweise Anerkennung der Hoheitsrechte des 
verletzten Staats, um die vollständige Wiederher- 
stellung des gestörten Rechtszustands. Bezüglich 
der Art und Anwendung der Repressalienmittel 
wird allerdings viel auf die Kulturstufe ankommen, 
auf welcher der Gegner steht, auf den sie wirken 
sollen. Aus dem Grundsatz, daß Repressalien 
Maßregeln der souveränen Staatsgewalt sind,
	        
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