645
durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundes-
staaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit fest-
gestellt sind, können nur mit Zustimmung
des berechtigten Bundesstaats abgeän-
dert werden.“ Zuden „Vorschriften der Reichs-
verfassung“ ist nach der Schlußbestimmung zum
XI. Abschnitt der Verfassung auch der Inhalt des
bayrischen Bündnisvertrags vom 23. Nov. 1870,
Ziff. 3, § 5 und der württembergischen Militär-
konvention vom 21. bis 25. Nov. 1870 zu rechnen.
Hiernach genießt die große Mehrzahl der bestehen-
den Reservatrechte den Schutz des zitierten Art. 78,
Abs. 2 der Reichsverf. Freilich darf dabei nicht
übersehen werden, daß der Abs. 2 des Art. 78 der
Reichsverf. selbst gegen Aufhebung nicht geschützt
ist, also auf Grund des Art. 78, Abs. 1 der
Reichsverf. aufgehoben werden kann, sobald im
Bundesrat nicht 14 Stimmen gegen die Auf-
hebung abgegeben werden, und daß Bayern (mit
6 Stimmen im Bundesrat), Württemberg (mit
4 Stimmen) und Baden (mit 3 Stimmen) weder
allein noch vereinigt eine zur Ablehnung genügende
Stimmenzahl aufzubringen vermögen. Die juri-
stische Sicherstellung der verfassungsmäßigen Re-
servatrechte ist also nicht groß. Anders liegt es
bei den vertragsmäßigen Reservatrechten, welche
in den Versailler Protokollen vom 15., 23. und
25. Nov. 1870 enthalten sind und ihre Vertrags-
natur laut § 3 des Reichsgesetzes vom 16. April
1871 betr. die Verfassung des Deutschen Reichs
beibehalten haben: aus dem Vertragscharakter
dieser Reservatrechte ergibt sich, daß sie nicht ohne
Zustimmung des vertragschließenden Bundesstaats
abgeändert werden können, selbst wenn Art. 78,
Abs. 2 der Reichsverf. aufgehoben wäre. Ob
endlich die auf einfache Reichsgesetze sich gründen-
den Reservatrechte und sonstigen Sonderrechte der
Einzelstaaten ohne Zustimmung des berechtigten
Einzelstaates abgeändert werden können, ist in der
staatsrechtlichen Literatur bestritten, dürfte aber
nach den Erklärungen, welche der Präsident des
Bundeskanzleramts Delbrück schon bei den Ver-
sailler Verhandlungen abgegeben hat, gleichfalls
zu verneinen sein.
2. Die „Zustimmung des berechtigten
Bundesstaats“, welche zur Abänderung eines
Reservatrechts erforderlich ist, braucht nicht im
Bundesrat erklärt zu werden, sie kann auch in
einem sonstigen Akt zum Ausdruck gebracht werden
(so mit Recht Laband 1 226 A. 1; Rehm 149).
Auch wenn der Verzicht auf ein Reservatrecht
bei Gelegenheit der Abstimmung im Bundesrat
ausgesprochen wird, handelt es sich hierbei stets
um einen rechtlich selbständigen Willensakt des be-
rechtigten Bundesstaats gegenüber dem Reich, nicht
um die Teilnahme an dem Willensakt des Reichs
bei der Bundesratsabstimmung. Ob dieser selb-
ständige Willensakt des einzelnen Bundesstaats
von der Regierung allein oder nur unter Mit-
wirkung der übrigen gesetzgebenden Faktoren des
Bundesstaats vorgenommen werden kann, hängt
Reservatrechte.
646
von dem maßgebenden Landesrecht ab. Handelt
es sich nach dem Landesrecht um einen Gegenstand
der Gesetzgebung, nicht der bloßen Verordnung,
so muß die Einwilligung des Landtags eingeholt
werden; ein ohne solche Einwilligung ausge-
sprochener Verzicht auf das Reservatrecht wäre
nichtig. Die gegenteilige Ansicht, welche zum Ver-
zicht auf ein Reservatrecht die Erklärung der Re-
gierung im Bundesrat in'allen Fällen für ge-
nügend erachtet, leidet an dem innern Widerspruch,
daß ein dem Bundesstaat gewährleistetes Gesetz-
gebungsrecht, also ein sämtlichen gesetzgebenden
Faktoren zustehendes und von ihnen gemeinsam
auszuübendes Recht durch einseitige Verfügung
des einen Gesetzgebungsfaktors ein für allemal soll
weggegeben werden dürfen. Die Meinungsver-
schiedenheiten über die Auslegung des Art. 78,
Abs. 2 der Reichsverf., der übrigens nur für die
in der Verfassung behandelten Reservatrechte gilt,
zeigten sich schon bei der Beratung der Versailler
Verträge im Norddeutschen Reichstag sowie im
bayrischen und württembergischen Landtag, ohne
daß sie zu einem Austrag gekommen wären. Bei
Beratung des Reichsgesetzes vom 24. Nov. 1871
über die Einführung des Kriegsdienstgesetzes in
Bayern wurde die Streitfrage im Reichstag noch-
mals erörtert; hierbei traten die Minister von
Bayern und Württemberg, v. Lutz und v. Mitt-
nacht, der bei den früheren Beratungen von dem
Präsidenten des Bundeskanzleramts Staatsmini-
ster Delbrück geäußerten Ansicht, daß die Ab-
stimmung der Bevollmächtigen im Bundesrat über
den Verzicht auf die Reservatrechte entscheide, bei,
und die Redner der damaligen nationalliberalen
Mehrheit des Reichstags (Lasker, Völk, Freiherr
Schenk v. Stauffenberg, Hölder) billigten diese
Ansicht, während die Redner der Zentrumsfraktion
(Windthorst, Greil) sie bekämpften, wie schon
früher von konservativer Seite (v. Brauchitsch)
Widerspruch erhoben worden war. Zu einer au-
thentischen Auslegung der Verfassungsbestimmung
kam es aber nicht. Die Kämpfe im Reichstag
fanden ein Nachspiel im bayrischen und württem-
bergischen Landtag. In der württembergischen
Abgeordnetenkammer beantragten am 7. Dez. 1871
die Abgeordneten Osterlen, Probst und Genossen
eine Erklärung der Kammer, wonach die Kammer
eine ohne ständische Zustimmung beschlossene An-
derung des Versailler Vertrags für den württem-
bergischen Staat als verpflichtend nicht anzuer-
kennen vermöge; die Abgeordnetenkammer beschloß
jedoch am 8. Febr. 1872 mit 60 gegen 29 Stim-
men, über diesen Antrag zur Tagesordnung über-
zugehen. In der bayrischen Abgeordnetenkammer
brachten die Abgeordneten Dr Schüttinger und
Dr Karl Barth am 13. Dez. 1871 einen Gesetz-
entwurf ein, welcher feststellen sollte, daß die bay-
rischen Bundesratsbevollmächtigten bei Abstim-
mungen über Sonderrechte Bayerns an die Zu-
stimmung des bayrischen Landtags gebunden seien;
dieser Gesetzentwurf fiel aber am 9. Febr. 1872,
21“