Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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ohne die monarchischen zu befriedigen. Eine solche 
Zeit des Paktierens mit der Revolution bei äuße- 
rem monarchischem und konservativem Schein ist 
die Blütezeit der „neutralen“, charakterlosen Ge- 
stalten, die ohne tiefere Prinzipien sich elastisch den 
augenblicklichen Verhältnissen anzupassen wissen. 
Das innere Zerwürfnis wird fortdauern, die po- 
litischen Parteien werden fortfahren, sich heimlich 
und öffentlich zu befehden, und schließlich werden 
die Rücksichtslosesten die Oberhand gewinnen und 
dem Königtum ein frühes Ende bereiten oder es 
wenigstens zum wesenlosen Schatten herabwür- 
digen. Die Nichtbeachtung dieses Grundsatzes ist 
die Ursache, warum die zweimalige Restauration 
in Frankreich von keiner nachteiligen Wirkung 
war (vgl. Jarcke, Vermischte Schriften III 411). 
Weitere Literaturangaben über unsern Gegenstand 
s. bei Zöpfl, Grundsätze des gemeinen deutschen 
Staatsrechts I„ 1863] 565/576; J. Held, 
Staat und Gesellschaft II I1863) 649; Mohl, 
Enzyklopädie der Staatswissenschaften (11872) 
208; Pfeiffer, Inwiefern sind Regierungshand- 
lungen eines Zwischenherrschers für den recht- 
mäßigen Regenten nach dessen Rückkehr verbind- 
lich? (18191. [Cathrein 8. J.) 
Restitution s. Begnadigung. 
Retorsion. 1. Wesen und Begriff. 
Grund und Quelle des Rechts ist nicht nur die D 
Rechtsnotwendigkeit, sondern auch die Billigkeit, 
d. i. die allseitige Berücksichtigung von Beweg- 
grund und Zweck im menschlichen Handeln, um so 
den denkbar richtigsten Maßstab für dasselbe zu 
ermitteln. Indem schon die römischen Juristen 
den Satz aufstellten: Aequitas dictat iudicium, 
haben sie die Fortbildung und Anwendung des 
strengen Rechts durch im Rechtsverkehr sich geltend 
machende Billigkeitsforderungen anerkannt, wie 
das Justinus Gentilis in seiner Abhandlung: De 
eo ducd iustum est circa justitiam et aequi- 
tatem, überzeugend dargelegt hat. Dieselbe Idee 
liegt den Billigkeitsgerichtshöfen, wie sie sich neben 
den Gerichten des gemeinen Rechts zuerst in Eng- 
land entwickelt haben, den Schiedsgerichten und 
auch dem Prinzip der freien richterlichen Beweis- 
würdigung im Strafverfahren zugrunde. Im 
Völkerrecht ist das Moment der Billigkeit um so 
erheblicher, als hier die Normen unvollkommener 
sind als jene des nationalen Rechts und die über- 
einstimmende Rechtsüberzeugung der Kulturstaaten 
zum weitaus größten Teil, besonders im Kriegs- 
verfahren, auf Brauch und Herkommen und der 
erprobten Rechtsübung beruht. Wird nun die 
Billigkeit von einem Staat außer acht gelassen, so 
wird der dadurch betroffene Staat in Anbetracht 
der offenbaren Unbilligkeit eines solchen Verhaltens 
auch seinerseits Billigkeitsansprüchen Be- 
rücksichtigung versagen. Hierin liegt das 
Wesen der Retorsion. Sie ist Ahndung einer 
Unbilligkeit durch Verweigerung von Billigkeits- 
ansprüchen. Dies deutet denn auch das Wort 
retorquere = zurückdrehen, rückwärtsbeugen, eine 
  
Restitution — Retorsion. 
  
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nachteilige Behandlung rückanwenden, sinngemäß 
an. Gerichtet ist die Retorsion gegen die Hintan- 
setzung der aequitas juris, nicht etwa schon gegen 
die Außerachtlassung der comitas gentium, der 
würdevollen, entgegenkommenden Höflichkeit im 
internationalen Verkehr, die man wünschen und 
schätzen wird, aber nicht beanspruchen kann. Eine 
Verletzung des Völkerrechts hat die Retorsion nicht 
zur Voraussetzung, schließt sie vielmehr begrifflich 
aus. Sie hat nicht den Charakter eines feind- 
seligen Aktes und ihrem juristischen Wesen nach 
größere Verwandtschaft mit der Reziprozität wie 
mit den Repressalien; sie geht von der praktischen 
Lebensregel aus: Quod quisque in alterum 
statuerit, ut ipse eodem iure utatur. Das 
will sagen: Setzt ein Staat im Rechtsverkehr das 
Billigkeitsmoment einem andern Staat gegenüber 
beiseite, so wird der in solcher Weise beeinträchtigte 
Staat sich auf gleichen Fuß stellen in dem Vor- 
haben und mit dem Zweck, dadurch die Unbillig- 
keit zu beheben. 
2. Geschichtliches. Mit den Anfängen 
einer Gleichgewichtsidee entstand wie von selbst 
das Bestreben, einer Verrückung des politischen 
Gleichgewichts entgegenzuwirken, nicht etwa bloß 
einem drohenden Übergewicht, sondern selbst ge- 
ringfügigeren Verschiebungen der Interessenkreise. 
enn die Erfahrung zeigte alsbald, daß hinter 
jeder Freiheitsfrage eine Rechts= und Machtfrage 
verborgen war, und daß, wer in ersterer Beziehung 
einen Schritt zurückwich, sich bereits auf einer 
schiefen Ebene befand. In solcher Weise sind durch 
kleine Rechtsverschiebungen, durch Erdulden einer 
Unbilligkeit freie Staaten zu unfreien und gegen- 
teilig durch eine lebhafte Empfindung bei Rechts- 
und Billigkeitsversagung bedingte Stellungen zu 
unbedingten geworden. Waren diese Erwägungen 
schon den hellenischen Gemeinwesen nicht fremd, 
wie Hume in seinem Essay of the balance of 
power nachgewiesen hat, so brachte die diplo- 
matische Kunst eine gewisse Methode in dieselben, 
nachdem das Prinzip von der Gleichheit der 
Staaten innerhalb eines europäischen Staaten- 
systems alle Versuche zur Herstellung eines weit- 
greifenden Universalreichs überwunden hatte. Das 
geschah zunächst in Italien, wo sich die zahl- 
reichen Kleinstaaten dergestalt gegeneinander zu 
behaupten suchten, daß keiner dem andern gefähr- 
lich werden konnte. In dieser Politik tritt die 
Retorsion in ihrem wahren Grundcharakter auf 
als Abwehr eines Verfahrens, das als unbilliges 
empfunden wird. Allein der Hang zu künstlichen 
Kombinationen unter gänzlichem Absehen von den 
Moralgeboten, wobei man List durch List, Treu- 
bruch durch Treubruch bekämpfte, der bekannte 
Machiavellismus hat auch den Begriff der Re- 
torsion verdunkelt und sohin den wesentlichen Unter- 
schied zwischen dieser und der Repressalie als 
Wiedervergeltung für erlittenes Unrecht verflüch- 
tigt, was erklärlich macht, daß man fortan Re- 
torsion und Repressalien verwechselte. 
 
	        
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