Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Als Erwiderung oder Aufrechnung einer er- 
littenen Unbill fand die Retorsion bzw. Kompen- 
sation auch in manche Strafgesetze Eingang 
bei wechselseitigen Beleidigungen und körperlichen 
Mißhandlungen, wenn sie auf der Stelle erwidert 
werden. In derartigen Fällen soll dem Richter 
die Möglichkeit geboten sein, für beide Teile oder 
für den minder Schuldigen eine mildere Strafe 
zu bestimmen oder von dieser selbst ganz absehen 
zu können: in Ansehung des Retorquenten des- 
halb, weil er zur Erwiderung des Angriffs gereizt 
wurde, also im Affekt gehandelt hat, hinsichtlich 
beider Teile aus dem weiteren Grund, daß durch 
die strafbare Handlung (sei es Angriff oder Ver- 
teidigung) der Anspruch auf Bestrafung gewisser- 
maßen verwirkt wird. Der Ausdruck Retorsion ist 
aber auch hier nicht zutreffend. 
3. Inhalt. Praxis. Die Zurücksetzung, 
welche als Unbilligkeit empfunden wird, kann alle 
im Völkerrecht begründeten allgemeinen und be- 
sondern Staatenrechte betreffen, wie auch die Be- 
ziehungen eines Staats zu seinen Angehörigen. 
Die Unbilligkeit kann bestehen in der Versagung 
der Billigkeit, aber auch in der Nichtzubilligung 
des gegen andere Staaten und ihre Untertanen 
beobachteten Gewohnheits= und Gesetzesrechts. 
Sohin kann man gegenständlich zwei Hauptfälle 
der Anwendung von Retorsionen unterscheiden: 
die Zurückweisung von Unbilligkeiten in der Rechts- 
pflege und von Beeinträchtigungen im kommer- 
ziellen Verkehr. Im ersten Fall können wieder 
Billigkeitsgrundsätze des materiellen Rechts (Pri- 
vatrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht) oder des 
Prozeßrechts (Verfahren in und außer Streit- 
sachen, Kriminal- und Polizeistrafverfahren) in 
Frage stehen. Beeinträchtigt durch die Unbillig- 
keit können entweder der Staat selbst oder Teile 
desselben oder einzelne Staatsbürger erscheinen. 
Vergeltung eines Rechtsbruchs durch einen Rechts- 
bruch ist nicht Retorsion. Eine übeltat verliert 
ihren Charakter darum nicht, weil sie durch eine 
strafbare Handlung veranlaßt wurde. Wieder- 
vergeltung (ius talionis) liegt überhaupt außerhalb 
des Völkerrechts der Friedensordnung. Die Zu- 
rückweisung der Gewaltübung durch Mittel der 
Gewalt ist Repressalie, d. i. Selbstsicherung durch 
Lähmung des gegnerischen Willens und Kraft- 
vermögens. 
In der Praxis handelt es sich sehr oft um die 
Vorfrage, wie eine Unbilligkeit beschaffen sein 
müsse, um die Retorsion zu rechtfertigen, ob der 
Umstand, daß der sich beschwerende Staat minder 
günstig behandelt wird als alle übrigen Staaten, 
undob insbesondere auch eine Zurücksetzung frem- 
der Staatsangehörigen hinter die eignen oder nur 
hinter andere Fremde dazu berechtige. Im ersten 
Punkt wird man sagen müssen: die Staaten 
können als Glieder einer völkerrechtlichen Ge- 
meinschaft ihre vitalen Interessen wechselseitig 
nicht unberücksichtigt lassen. Sie werden sich zur 
Aufrechterhaltung eines guten Einvernehmens nicht 
Retorsion. 
  
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bloß in Bezug auf die Rechtspflege, sondern auf 
alle Zweige der staatlichen Verwaltung die tun- 
lichsten Zugeständnisse machen. Im Fall der Ver- 
weigerung eines billigermaßen zu verlangenden 
Entgegenkommens wird der dadurch beeinträchtigte 
Staat zur Anwendung von Retorsionsmaßregeln 
berechtigt sein, um den andern Staat zu ent- 
sprechenden Zugeständnissen zu bewegen, seien es 
gleichartige oder doch ähnliche. In solcher Weise 
ist das Rechtsinstitut der Retorsion allerdings für 
die Fortbildung der internationalen Billigkeits- 
praxis von Nutzen und erscheint nicht bloß als 
Korrektiv gegen allzu fühlbare Geltendmachung 
des Sonderinteresses, sondern auch als Mittel, 
empfindliche Lücken im Völkerrecht auszufüllen. 
Im zweiten Punkt steht folgendes zur Er- 
wägung: Darf auch die gleiche Zulassung der 
Fremden wie der Einheimischen zum Erwerb und 
zur Ausübung von Privatrechten gegenwärtig als 
eine ziemlich allgemein anerkannte Regel angesehen 
werden, so sind Vorbehalte in dieser Beziehung 
noch keineswegs eine Verletzung der Billigkeit. 
Die Billigkeit (equity) wird erst dann und dort 
verletzt, wo die Angehörigen eines Staats grund- 
sätzlich schlechter behandelt werden als jene der 
übrigen Staaten, und dagegen wird Retorsion 
als eine der Unbilligkeit entgegenwirkende Maß- 
regel berechtigt sein, wofern es sich nicht etwa um 
Übergriffe einzelner Organe, sondern um Ver- 
fügungen der Regierung selbst handelt. 
Da die Retorsion nicht Vergeltung bezweckt, 
sondern nur die Beseitigung der Unbilligkeit, wird 
sie gegenstandslos, sobald ihr Zweck erreicht ist. 
Die Retorsion darf auch keine unverhältnismäßige, 
mit dem Anlaß, aus welchem sie ergriffen wurde, 
außer sachlichem Zusammenhang stehende sein. 
Ob retorquierende Maßregeln im Weg der Ge- 
setzgebung beschlossen oder durch die Exekutive in 
das Werk gesetzt werden, hängt von den Staats- 
verfassungen und der Tragweite des einzelnen 
Falles ab. Retorsion darf immer nur gegen den 
dieselbe veranlassenden Staat, nicht aber gegen 
einen andern geübt werden, mag er auch mit 
ersterem in einem staats= oder völkerrechtlichen 
Verband stehen. 
Der Literatur des Völkerrechts gebricht es an 
einer Sammlung von Retorsions fällen, die in 
verschiedenen Formen als Kampfzölle, Sperr- 
gesetze, Ausfuhrverbote, Versagung der Rechts- 
hilfe, Einschränkung des diplomatischen Ver- 
kehrs usw. vorkommen. Manche Beispiele gehören 
der Lehre von der formellen Reziprozität oder 
aber von der Repressalienübung an, so das oft 
zitierte Dekret Napoleons I., Berlin, 21. Nov. 
1806, durch welches die Blockierung der Küsten 
Großbritanniens und die Beschlagnahme alles 
englischen Eigentums zu Wasser und zu Land 
verfügt wurde. Retorsionsmaßnahmen sind nicht 
selten in Zolltarifgesetzen vorgesehen. So kann 
unter anderem gegenüber Staaten, welche deutsche 
Schiffe oder Waren deutscher Herkunft schlechter
	        
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