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und als nach den modernen Verfassungen dem
Volk fast durchweg eine große Mitwirkung an der
Regierung eingeräumt ist.
Wenn der einzelne ein Recht besitzt, sein Leben
gegen einen offenbar ungerechten Angriff des
Fürsten zu verteidigen, so läßt sich kein Grund
finden, warum ein gleiches Recht nicht allen zu-
stehen sollte, und warum die einzelnen nicht zur
wirksameren Geltendmachung dieses Rechts sich
miteinander verbünden dürften. Damit maßt sich
das Volk keineswegs die Souveränität an; denn
zur Abwehr gegen einen augenblicklichen ungerech-
ten Angriff bedarf es keiner Souveränität. Diese
Auffassung verstößt auch keineswegs gegen den
Syllabus; denn in der oben angeführten These
wird nur die Ansicht verworfen, daß man beliebig
dem rechtmäßigen Fürsten den Gehorsam auf-
künden und rebellieren dürfe.
Man hat Thomas von Aquin, als einen her-
vorragenden Vertreter der katholischen Welt-
anschauung, zu den Vertretern des Rechts der Re-
volution zählen wollen. Mit Bellarmin, heißt es,
stimme Thomas überein, „welcher eine Empörung
im Staat für zulässig achtet, wenn man eine ge-
rechte Ursache und Macht dazu hat. Die Tugend-
haften freilich pflegen keine Macht und glauben
keine gerechten Ursachen zu haben. Falls aber
beides bei ihnen zusammentrifft und kein Schaden
für das Gemeinwohl zu besorgen ist, so würden
sie, meint Thomas, Sünde begehen, wenn sie nicht
die Empörung unternähmen“ (Ritschl bei v. Hert-
ling, Kleine Schriften zur Zeitgesch. und Po-
litik 160). Indessen leitet Thomas die Staats-
gewalt aus göttlicher Anordnung ab und begründet
die Pflicht des Gehorsams gegen die Obrigkeit
als göttliches Gesetz. Mit aller Entschiedenheit
verwirft er die gewaltsame Empörung, da sie der
Gerechtigkeit wie dem gemeinen Wohl widerstreite,
und das Vergehen sei um so schwerer, je höher
das gemeine Wohl über dem des einzelnen stehe.
Freilich dem Tyrannen gegenüber, der widerrecht-
lich die Herrschaft an sich gerissen, ist der bewaff-
nete Widerstand des Volks keineswegs Empörung,
sondern Verteidigung der Freiheit. Aber auch in
diesem Fall ist der Versuch der Abwehr nur dann
zulässig, wenn nicht größere Verwirrung daraus
folge: Regimen tyrannicum non est iustum,
duia non ordinatur ad bonum commune, sed
ad bonum privatum regentis, ut patet per
Philosophum in 3 Polit. c. 5 et in 8 Ethic.
C. 10. Et ideo perturbatio huius regimi-
nis non habet rationem seditionis,
nisi forte quando sic inordinate perturbatur
tyranni regimen, duocd multitudo subiecta
maius detrimentum patitur ex perturba-
tione consequenti quam ex tyranni regi-
mine. Magis autem seditiosus est, qui in
Populo sibi subiecto discordias et seditiones
nutrit, ut tutius dominari possit; hoc enim
tyrannicum est, cum sit ordinatum ad
bonum proprium praesidentis cum multitu-
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl.
Revolution.
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dinis nocumento (Summa theol. 2, 2, d. 42,
Aa. 3 ad 3).
Wenn nun aber die rechtmäßige Obrigkeit ihre
Gewalt mißbraucht, wenn sie das Recht der Unter-
tanen mit Füßen tritt, so ist es, wenn die Tyrannei
noch nicht den äußersten Grad erreicht hat, schon
aus Zweckmäßigkeitsgründen ratsamer, sie zu er-
tragen. Aber selbst wenn der äußerste Grad der
Bedrückung erreicht ist, bleibt doch das von einigen
empfohlene Mittel des Tyrannenmords verwerf-
lich. In diesem Fall soll nicht die private An-
maßung einzelner gegen die Grausamkeit der
Tyrannen vorgehen, sondern die öffentliche Auto-
tität: videtur autem magis contra tyranno-
rum saevitiam non privata praesumptione
aliquorum, sed auctoritate publica proceden-
dum (De reg. princ. 1, 6). Nicht eine revolutio-
näre Gesellschaft oder Partei, sondern nur das
Volk als Ganzes und nur in geordneter und durch
die positiven Rechtsverhältnisse begründeter Weise
darf zum gewaltsamen Widerstand, d. h. zur Ab-
setzung des Tyrannen, schreiten. Wenn diesem
das Recht zusteht, sich einen König zu wählen, so
kann letzterer ohne Unrecht abgesetzt werden, falls
er seine Gewalt mißbraucht, wofür von Thomas
Beispiele aus der römischen Geschichte beigebracht
werden. Wo das Recht der Einsetzung eines
Fürsten einem Höheren zusteht, soll das Volk bei
diesem um Abhilfe bitten. Gibt es aber gar keine
menschliche Hilfe, so bleibt nur die Zuflucht zu Gott
in Gebet und Buße. Mit Recht bemerkt v. Hertling
(a. a. O. 166): „Nicht der leiseste rebolutionäre
Zug ist in diesen Gedanken wahrzunehmen, nicht
einmal von einem „Notrecht des Volks' ist die Rede,
das doch von den Modernen fast alle vertreten.“
Das Christentum kennt kein Recht der Revo-
lution, und nur wo diechristliche Weltanschauung
in den Massen erschüttert wird, bereitet sich der
Boden für die Empörung vor. Paulsen gibt
das unumwunden zu: „Alle großen Revolutionen
in der Welt der Einrichtungen sind von Revo-
lutionen in der Gedankenwelt ausgegangen. Nir-
gends ist die Sache deutlicher als in dem jüngsten
Abschnitt der Geschichte der europäischen Völker.
Die lange Reihe von Revolutionen, die den In-
halt der modernen Geschichte ausmachen, sind eine
Nachwirkung der Veränderungen in der Welt der
Vorstellungen, durch welche seit dem 15. Jahrh.
die in der Kirchenlehre systematisierte Weltan-
schauung des Mittelalters aus den Angeln gehoben
wurde. Die großen historischen und geographi-
schen, kosmischen und physikalischen Entdeckungen,
die in erstaunlicher Fülle um das 16. Jahrh. sich
zusammendrängen, haben zuerst die Kirchenrevo-
lution, sodann die wirtschaftlichen und politischen
Revolutionen, welche vor allem Deutschland, Eng-
land und Frankreich seitdem erschüttert haben und
noch nicht zu Ende gekommen sind, möglich ge-
macht“ (System der Ethik I1“ 212).
2. Revolutionäre Elemente im Schoß
der modernen Gesellschaft. Die moderne
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