Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

678 
und als nach den modernen Verfassungen dem 
Volk fast durchweg eine große Mitwirkung an der 
Regierung eingeräumt ist. 
Wenn der einzelne ein Recht besitzt, sein Leben 
gegen einen offenbar ungerechten Angriff des 
Fürsten zu verteidigen, so läßt sich kein Grund 
finden, warum ein gleiches Recht nicht allen zu- 
stehen sollte, und warum die einzelnen nicht zur 
wirksameren Geltendmachung dieses Rechts sich 
miteinander verbünden dürften. Damit maßt sich 
das Volk keineswegs die Souveränität an; denn 
zur Abwehr gegen einen augenblicklichen ungerech- 
ten Angriff bedarf es keiner Souveränität. Diese 
Auffassung verstößt auch keineswegs gegen den 
Syllabus; denn in der oben angeführten These 
wird nur die Ansicht verworfen, daß man beliebig 
dem rechtmäßigen Fürsten den Gehorsam auf- 
künden und rebellieren dürfe. 
Man hat Thomas von Aquin, als einen her- 
vorragenden Vertreter der katholischen Welt- 
anschauung, zu den Vertretern des Rechts der Re- 
volution zählen wollen. Mit Bellarmin, heißt es, 
stimme Thomas überein, „welcher eine Empörung 
im Staat für zulässig achtet, wenn man eine ge- 
rechte Ursache und Macht dazu hat. Die Tugend- 
haften freilich pflegen keine Macht und glauben 
keine gerechten Ursachen zu haben. Falls aber 
beides bei ihnen zusammentrifft und kein Schaden 
für das Gemeinwohl zu besorgen ist, so würden 
sie, meint Thomas, Sünde begehen, wenn sie nicht 
die Empörung unternähmen“ (Ritschl bei v. Hert- 
ling, Kleine Schriften zur Zeitgesch. und Po- 
litik 160). Indessen leitet Thomas die Staats- 
gewalt aus göttlicher Anordnung ab und begründet 
die Pflicht des Gehorsams gegen die Obrigkeit 
als göttliches Gesetz. Mit aller Entschiedenheit 
verwirft er die gewaltsame Empörung, da sie der 
Gerechtigkeit wie dem gemeinen Wohl widerstreite, 
und das Vergehen sei um so schwerer, je höher 
das gemeine Wohl über dem des einzelnen stehe. 
Freilich dem Tyrannen gegenüber, der widerrecht- 
lich die Herrschaft an sich gerissen, ist der bewaff- 
nete Widerstand des Volks keineswegs Empörung, 
sondern Verteidigung der Freiheit. Aber auch in 
diesem Fall ist der Versuch der Abwehr nur dann 
zulässig, wenn nicht größere Verwirrung daraus 
folge: Regimen tyrannicum non est iustum, 
duia non ordinatur ad bonum commune, sed 
ad bonum privatum regentis, ut patet per 
Philosophum in 3 Polit. c. 5 et in 8 Ethic. 
C. 10. Et ideo perturbatio huius regimi- 
nis non habet rationem seditionis, 
nisi forte quando sic inordinate perturbatur 
tyranni regimen, duocd multitudo subiecta 
maius detrimentum patitur ex perturba- 
tione consequenti quam ex tyranni regi- 
mine. Magis autem seditiosus est, qui in 
Populo sibi subiecto discordias et seditiones 
nutrit, ut tutius dominari possit; hoc enim 
tyrannicum est, cum sit ordinatum ad 
bonum proprium praesidentis cum multitu- 
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
  
Revolution. 
  
674 
dinis nocumento (Summa theol. 2, 2, d. 42, 
Aa. 3 ad 3). 
Wenn nun aber die rechtmäßige Obrigkeit ihre 
Gewalt mißbraucht, wenn sie das Recht der Unter- 
tanen mit Füßen tritt, so ist es, wenn die Tyrannei 
noch nicht den äußersten Grad erreicht hat, schon 
aus Zweckmäßigkeitsgründen ratsamer, sie zu er- 
tragen. Aber selbst wenn der äußerste Grad der 
Bedrückung erreicht ist, bleibt doch das von einigen 
empfohlene Mittel des Tyrannenmords verwerf- 
lich. In diesem Fall soll nicht die private An- 
maßung einzelner gegen die Grausamkeit der 
Tyrannen vorgehen, sondern die öffentliche Auto- 
tität: videtur autem magis contra tyranno- 
rum saevitiam non privata praesumptione 
aliquorum, sed auctoritate publica proceden- 
dum (De reg. princ. 1, 6). Nicht eine revolutio- 
näre Gesellschaft oder Partei, sondern nur das 
Volk als Ganzes und nur in geordneter und durch 
die positiven Rechtsverhältnisse begründeter Weise 
darf zum gewaltsamen Widerstand, d. h. zur Ab- 
setzung des Tyrannen, schreiten. Wenn diesem 
das Recht zusteht, sich einen König zu wählen, so 
kann letzterer ohne Unrecht abgesetzt werden, falls 
er seine Gewalt mißbraucht, wofür von Thomas 
Beispiele aus der römischen Geschichte beigebracht 
werden. Wo das Recht der Einsetzung eines 
Fürsten einem Höheren zusteht, soll das Volk bei 
diesem um Abhilfe bitten. Gibt es aber gar keine 
menschliche Hilfe, so bleibt nur die Zuflucht zu Gott 
in Gebet und Buße. Mit Recht bemerkt v. Hertling 
(a. a. O. 166): „Nicht der leiseste rebolutionäre 
Zug ist in diesen Gedanken wahrzunehmen, nicht 
einmal von einem „Notrecht des Volks' ist die Rede, 
das doch von den Modernen fast alle vertreten.“ 
Das Christentum kennt kein Recht der Revo- 
lution, und nur wo diechristliche Weltanschauung 
in den Massen erschüttert wird, bereitet sich der 
Boden für die Empörung vor. Paulsen gibt 
das unumwunden zu: „Alle großen Revolutionen 
in der Welt der Einrichtungen sind von Revo- 
lutionen in der Gedankenwelt ausgegangen. Nir- 
gends ist die Sache deutlicher als in dem jüngsten 
Abschnitt der Geschichte der europäischen Völker. 
Die lange Reihe von Revolutionen, die den In- 
halt der modernen Geschichte ausmachen, sind eine 
Nachwirkung der Veränderungen in der Welt der 
Vorstellungen, durch welche seit dem 15. Jahrh. 
die in der Kirchenlehre systematisierte Weltan- 
schauung des Mittelalters aus den Angeln gehoben 
wurde. Die großen historischen und geographi- 
schen, kosmischen und physikalischen Entdeckungen, 
die in erstaunlicher Fülle um das 16. Jahrh. sich 
zusammendrängen, haben zuerst die Kirchenrevo- 
lution, sodann die wirtschaftlichen und politischen 
Revolutionen, welche vor allem Deutschland, Eng- 
land und Frankreich seitdem erschüttert haben und 
noch nicht zu Ende gekommen sind, möglich ge- 
macht“ (System der Ethik I1“ 212). 
2. Revolutionäre Elemente im Schoß 
der modernen Gesellschaft. Die moderne 
22
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.