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Gesellschaft birgt in ihrem Schoß eine Reihe von
Ideen, welche revolutionärer Natur sind und auf
den mehr oder weniger gewaltsamen Umsturz des
Bestehenden abzielen. Sie werden vertreten durch
den Anarchismus und den Sozialismus
in ihren verschiedenen Schattierungen. Insbeson-
dere verschmähen die Anarchisten im Gegensatz zu
den Sozialisten die sog. politischen Mittel, um zu
ihrem Ziel zu gelangen. Sie appellieren an die
Gewalt, um möglichst rasch der heutigen Gesell-
schaft ein Ende zu bereiten. Die Theorie des
Anarchismus ist nur wenig ausgebildet, wenn er
auch seine Literaten unter den Begabten der deka-
denten Boheme gefunden hat. Dagegen werden
durch haßerfüllte, aufreizende Flugschriften un-
ruhige Köpfe verwirrt und zu blutiger Gewalt-
tat aufgestachelt. Der Anarchismus hat, beson-
ders in Frankreich, „in Künstlerkreisen bei „Im-
pressionisten“ und „Symbolisten“ viel Sympathie
und Anhang gefunden, und daher kam es, daß
manche Künstler der neuen Lehre ihren Griffel
liehen und so eine Reihe von Zeichnungen schufen,
welche dem hart schaffenden Arbeitsmann die
herrschende Ungerechtigkeit und Korruption zur
lebhaften Anschauung im eigentlichen Sinn
des Wortes bringen sollten. Wohl selten hat es
die politische Karikatur zu einem gleichen Zu-
sammentreffen der Ideen und der künstlerischen
Ausführung gebracht. Mit wahrhaft infernalischem
Genie sind die Zeichnungen hingeworfen, welche
den Leser gleichzeitig zu Hohn, Empörung und
Nachdenken aufstacheln“ (Adler, Handwörterbuch
der Staatswissenschaften I2 316).
Revolutionär ist auch der Sozialismus, der ja
in seiner Kritik der bestehenden Gesellschaft im
wesentlichen mit dem Anarchismus übereinstimmt.
Zwar ist seine Taktik eine ganz andere als die des
Anarchismus, der durch die „Propaganda der
Tat“ sein Ziel zu erreichen sucht; aber nichts-
destoweniger ist der Sozialismus seinem Wesen
nach revolutionär. Das zeigt sich schon in der
Entwicklungsgeschichte des Proletariats, das den
günstigen Nährboden für das Emporkommen der
revolutionären Leidenschaften bildet (Sombart,
Sozialismus und soziale Bewegung S. 7). Man
könnte freilich derartige revolutionäre Ausbrüche
des proletarischen Klassenbewußtseins wie die eng-
lische Chartistenbewegung (1837/48) eben als die
uUnvermeidlichen Wehen bezeichnen, unter denen die
sozialistische Idee geboren wurde, als die Stürme,
die eine große Bewegung einleiteten. Aber der
Sozialismus ist auch nach dem Geständnis seiner
Hauptvertreter eine wesentlich revolutionäre Partei.
Freilich flüchten sich diese gern hinter den Doppel-
sinn des Wortes Revolution. Es gebe auch fried-
liche, gesetzliche Revolutionen. Mag sein, daß
manchem der gebildeten und reichen Führer der
Sozialdemokratie der Gedanke an eine blutige
Revolution fern liegt, in den Köpfen der Massen
des Proletariats ist derselbe trotzdem lebendig und
wirkt mit suggestiver Gewalt in den Gemütern
Revolution.
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der über ihr hartes Schicksal Verbitterten. Über-
dies folgt die Revolution auch notwendig aus dem
Ziel, dem der Sozialismus zustrebt. Es ist ja
ganz undenkbar, daß jene Kapitalisten, die immer
als der Ausbund von Egoismus und Herzlosigkeit
geschildert werden, ihres Besitzes und ihrer Herr-
schaft sich freiwillig zugunsten des von ihnen bis-
her mißhandelten Proletariats begeben werden.
Es gehört in das Gebiet der sozialen Utopien,
wenn neuestens ein für die Verstaatlichung der
Produktivmittel begeisterter Schriftsteller meint
„Die Erschaffung des neuen gesellschaftlichen Sy-
stems ist eine politische Aufgabe, welche durch
staatliche Gesetzgebung erledigt werden muß. Es
wird hierdurch gleichzeitig jener großen Gefahr
vorgebeugt, daß die Gesellschaft durch ein revo-
lutionäres Blutbad hindurch in den neuen Zu-
stand gelange.. Der einzige Weg einer fried-
lichen Umgestaltung ist der, daß der Staat ohne
Rücksicht auf Einzelinteressen es unternimmt, unter
strenger Beobachtung der Gemeinschaftsinteressen
die Gesellschaft ohne größere Erschütterung, ohne
Verwicklung und ohne Kraftverlust aus dem alten
Zustand in die neue Ordnung hinüberzuleiten.
Der Staat also gestaltet sich um behufs seines
eignen Wohlstands, seiner eignen Kräftigung,
im Interesse seines eignen Fortschritts, und zwar
auf gesetzlichem Weg, in friedlicher Weise, ohne
jede gewalttätige Operation“ (Samuel Révai,
Grundbedingungen der gesellschaftlichen Wohlfahrt
119021 654 f). Auf eine derartige friedliche Um-
gestaltung scheinen die Führer des Proletariats
nicht zu hoffen.
Spricht doch Marx selbst von der kommenden
Exploitation der bisherigen Exploiteure. Aus-
drücklich bekannte er sich zur Revolution der Ge-
walt auf dem Haager Kongreß (Sept. 1872):
„In den meisten Ländern Europas muß die Ge-
walt der Hebel unserer Revolutionen sein; an die
Gewalt wird man seinerzeit appellieren müssen,
um endlich die Herrschaft der Arbeit zu etablieren.“
Im Manifest der kommunistischen Partei, in dem
Marx den Proletariern aller Länder das „Ver-
einigt euch!“ zugerufen, hatte es geheißen: „Die
Kommunisten erklären es offen, daß ihre Zwecke
nur erreicht werden können durch den gewaltsamen
Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.
Mögen die herrschenden Klassen vor einer kom-
munistischen Revolution zittern.“ Ebenso Lieb-
knecht, Bebel; letzterer macht sich das Marxrsche
Wort zu eigen: „Die Gewalt ist der Geburts-
helfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen
schwanger geht; sie ist selbst eine ökonomische
Potenz“ (vgl. derartige Aussprüche bei Käser
[Klein), Der Sozialdemokrat hat das Wort,
21898). Nach Lassalle, dem faszinierenden Agi-
tator der deutschen Sozialdemokratie, würde die
Revolution heranstürmen „mit ehernen Sohlen
und wehendem Lockenhaar“, um unter ihren
Tritten die morsche kapitalistische Gesellschaft zu
begraben. Und es ist kein Zufall, wenn in der