Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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allen Vertretern der sog. klassischen National- 
ökonomie. Die Konsequenzen aus den letzteren 
haben seinem System die originellen Grundlagen 
und die theoretische Geschlossenheit gegeben, die es 
vor dem des A. Smith und der meisten seiner 
Nachfolger auszeichnen. Die naturrechtlichen 
Grundlagen bedingen in der Theorie des Werts 
die objektive Wertbildung auf Grund der Kosten, 
in der Grundrentenlehre die Bildung der Rente 
auf dem natürlichen Weg der fortschreitenden Ur- 
barmachung der Erde, in der Arbeitslohntheorie 
die Lehre vom natürlichen Arbeitspreis, bedingt 
durch den Lebensstandard der Arbeiters und den 
Lohnfonds, in der Kapitalstheorie endlich die 
Kapitalsverteilung und Zinsfußreglung unter der 
Leitung des freiwaltenden Selbstinteresses. Alle 
diese Elemente finden sich schon bei den Physio- 
kraten und bei Smith, sie alle mit Ausnahme der 
Werttheorie haben ihre eigentümliche Gestaltung 
bei Ricardo unter dem Einfluß des Gesetzes vom 
sinkenden Nahrungsmittelspielraum gefunden. In- 
dem dieses Gesetz der Grundstein von Ricardos 
Grundrentenlehre wurde, hat es durch diese maß- 
gebenden Einfluß auch auf die Lehre von den an- 
dern Einkommenszweigen geübt. Die geozentrische 
Wirtschaftsauffassung stellt Ricardo in eine Linie 
mit den französischen Physiokraten und den mo- 
dernen Bodenreformern, sie scheidet ihn von 
A. Smith, Karl Marx und der sog. psychologischen 
Nationalökonomie. Die Grundrentenlehre ist dem- 
zufolge auch der umstrittenste Teil von Ricardos 
Lehrgebäude. Ihre erste Voraussetzung, das Gesetz 
des sinkenden Nahrungsmittelspielraums, wird von 
den Bodenreformern und den soziologischen Opti- 
misten, von Carey bis zu F. Oppenheimer, die 
zweite Voraussetzung, die previous accumula- 
tion, die rein wirtschaftliche Entstehung der Rente 
durch die historische Ausdehnung der Produktion 
von eben diesen und von den Sozialisten (Rod- 
bertus und Marx) bestritten. Vielfach wird Ri- 
cardos Differentialrententheorie auch nur für den 
landwirtschaftlich genutzten, nicht für den städti- 
schen Boden angenommen. Allen diesen Angriffen 
gegenüber haben in den letzten Jahren vor allem 
Lexis und Diehl die Rettung der Theorie ver- 
sucht, hierbei jedoch begründeten Widerspruch ge- 
funden. Der zweite Hauptangriff gegen Ricardo 
richtet sich gegen seine rationalistisch= naturrecht- 
lichen Voraussetzungen, vor allem im Prinzip des 
laissez-faire, als dessen schärsster, einseitigster 
Vertreter Ricardo vielfach angesehen wurde. Der 
dritte Angriff trifft die deduktive Methode. Die 
beiden letzteren Angriffe gingen hauptsächlich von 
der historischen Schule (Knies, Brentano, Held, 
Schmoller) aus, fanden aber schon von Roscher, 
dann später von Ashley, Diehl u. a. Zurückweisung. 
Die positiven Wirkungen von Ricardos Wirt- 
schaftslehre sind weniger bei K. Marx oder Las- 
salle, wie so vielfach behauptet, zu suchen, als bei 
den Neuklassikern Marshall, Clark, Dietzl u. a., 
die eine Vereinigung der Kostentheorie mit der 
  
Richter. 
  
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Grenznutzentheorie, deren Elemente sie bei Ricardo 
vorgebildet finden, versuchen. Und dieser Weg 
dürfte, wie in dem speziellen Fall der Wertlehre, 
so auf den umfassenderen Gebieten der Methodik 
und Systematik der zukunftsreichste sein. Die Na- 
tionalökonomie hat seit D. Ricardo wertvolle Be- 
reicherungen in allen Zweigen erfahren. Aber so 
wie in den philosophischen Disziplinen die Orien- 
tierung an den alten geschlossenen Systemen be- 
grifflichen Denkens mehr und mehr als Not- 
wendigkeit empfunden wird, so werden auch die 
Sozialwissenschaften von der zu lange einseitig 
gepflegten Empirik wieder in die Schule der Klas- 
siker zurückkehren, um die Tradition, die Lebens- 
ader jeder Wissenschaft, auch auf dem Gebiet der 
theorelischen Nationalökonomie wiederzufinden. 
Literatur. Schriften R.3. Gesamtausgaben: 
The Works of Ricardo. With a Notice of the 
Life and Writings of the Author, von R. Mac 
Culloch (Lond. 1846); Euvres completes de Ri- 
cardo (Par. 21882, als Teil der Nouvelle col- 
lection des principaux économistes). R.3 Haupt- 
werk in deutscher übersetzung: Grundsätze der 
Volkswirtschaft u. Besteuerung, von E. Baumstark, 
(2 Bde, 1: Übersetzung, 1I: Erläuterungen 1837 
bis 1838, 1: 21877); Grundsätze der Volkswirt- 
schaft u. Besteuerung, übersetzt von O. Thiele, 
hrsg. u. eingeleitet von H. Wäntig, in Sammlung 
sozialwissenschaftl. Meister (1905). 
Schriften über R. Das umfassendste neuere Werk 
über R. ist: K. Diehl, D. R.#s Grundgesetz der Volks- 
wirtschaft u. Besteuerung II u. III, als 2. Aufl. der 
Erläuterungen von Baumstark (1905); ders., D. R. 
im Handwörterb. der Staatswissenschaft, 2. Aufl., 
daselbst auch die gesamte Literatur bis 1901. Seit- 
her: Natoli Fabrizio, II principio del valore e 
la misura quantitativa del lavoro (Palermo 
1906); Dimitri Kalinoff, D. R. u. die Grenzwert- 
theorie (1907); Charles Gide u. Charles Rist, 
Histoire des doctrines Cconomiques depuis les 
physiocrates jusqufa nos jours (Par. 1909); 
F. Oppenheimer, D. R s Grundrententheorie, Dar- 
stellung u. Kritik (1909) [Rizzi.) 
Richter. II. Allgemeines und Geschichtliches. 
II. Persönliche Rechtsverhältnisse der Richter in 
Deutschland. III. In einigen außerdeutschen 
Ländern.) 
I. 1. Richter ist „einer, der Gericht hält und 
Recht spricht" (Grimm). Des Richteramts zu 
walten, galt allzeit als eine Funktion der obersten 
Staatsgewalt, die von dem Träger derselben per- 
sönlich, in dynastisch regierten Staaten vom Staats- 
oberhaupt, in demokratischen vom Volk ausgeübt 
wurde. Sie galt so sehr als die hervorragendste 
Funktion, daß noch im Sachsenspiegel (1215/35) 
der Landesherr im heutigen Sinn des Worts 
durchaus mit richter, des landes richter be- 
zeichnet wird; die neue Bezeichnung lantherre 
gewinnt erst im 13. Jahrh. allgemeine Verbreitung. 
In der römischen Königszeit sprach der König 
persönlich Recht; in der Zeit der Republik traten 
zunächst die Konsuln als die von der souveränen 
Bürgergemeinde mit dem imperium (regium)
	        
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