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setzung ausschließlich mit gelehrten Berufsrichtern
durchgeführt und überall die Justiz von der Ver-
waltung getrennt. Gleichzeitig regen sich aber
wieder Bestrebungen behufs Wiederbeteiligung des
Volks an der Rechtsprechung. Der nächste Erfolg
derselben besteht darin, daß die aus der Franzosen-
zeit in den rheinischen Landen bestehen gebliebenen
Schwurgerichte übernommen werden. Seit der
Gerichtsorganisation von 1879 wirken Laien ferner
wieder in mancherlei Gerichten, wie Schöffen-,
Handels-, Gewerbe-, Kaufmanns-, Verwaltungs-
gerichten, mit. Die Gerichte sind landesherrlich
und sprechen im Namen des einzelnen Staats-
oberhaupts Recht, ohne aber hierbei dessen per-
sönliche Vertreter zu sein (vgl. unter 3); doch
bestehen das Reichsgericht und das Reichsmilitär-
gericht, von denen ersteres im Namen des Reichs
erkennt (letzteres läßt seinen Urteilen keine Ein-
gangsformel vorausgehen).
2. Die Funktion des Rechtsprechens besteht in
der Unterordnung eines Rechtsfalls, eines gegebenen
oder erst noch aufzuklärenden Tatbestands unter
das geltende Recht und in der Verkündung des
gewonnenen Resultats, des Urteils. Die Urteils-
findung ist also lediglich eine logische Operation,
die ausschließlich kraft der logischen Notwendigkeit,
mit der nach allgemeinen Denkgesetzen aus Obersatz
und Untersatz die Schlußfolgerung sich ergibt, das
bestehende Recht auf den einzelnen Fall zur An-
wendung bringt.
Daraus ergibt sich zunächst, daß der Richter-
spruch nur das feststellt, was zwischen den streiten-
den Parteien bzw. in Ansehung des einer Straftat
Angeklagten Rechtens ist, nicht aber, daß er dar-
über hinaus im allgemeinen Recht im Sinn von
Gesetz erzeugt. Als im alten Rom die Rechts-
pflege in den Händen des Prätors lag, war dessen
bei seinem Amtsantritt erlassenes Edikt, d. h. die
Bekanntmachung der Normen, nach denen er sein
Amt verwalten werde, in hervorragendem Maß
Quelle der Rechtsbildung, um so mehr, als die-
jenigen Stücke des Edikts, welche sich als gut und
brauchbar erwiesen hatten, von den Amtsnach-
folgern übernommen wurden. Ursprünglich Rechts-
quelle nur für die Amtsdauer der einzelnen
Magistratsperson, wurde dieses übernommene
Edikt (edictum tralaticium) unter Hadrian
131 n. Chr. zusammengefaßt und als edictum
perpetuum für unabänderlich und verbindlich
erklärt. — Auch die Rechtsprechung der deutschen
Volks= und Gerichtsgemeinde enthielt ein Element
der Rechtserzeugung. Nach germanischer Auf-
fassung wurde das Recht überhaupt nicht gemacht,
es wurde nur bezeugt. Wenn also die Gemeinde
in einem Spruch, sei es daß er einen konkreten
Rechtsfall entschied, also ein „Urteil“ war, sei es
daß er eine abstrakte Frage beantwortete, also ein
„Weistum“ enthielt, das Recht bezeugte, so sprach
sie wenigstens für neue Verhältnisse zugleich aus,
was dem Rechtsbewußtsein des Volks entsprach
und als Recht bestehen sollte. Die westgermani-
Richter.
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schen und nordischen Volksrechte sind wohl alle auf
derartige Dingbeschlüsse zurückzuführen. — Eine
solche Recht erzeugende Kraft kommt den Richter-
sprüchen heutiger Zeit nicht zu. Die heutige
Tätigkeit der rechtsprechenden Richter besteht, wie
bemerkt, lediglich in der Kunst der Anwendung
des geltenden Rechts. Eine häufige und lange
Zeit gleichmäßig durchgeführte Ubung der Ge-
richte (usus fori), die indessen ihre bindende Kraft
für die Zukunft oder für andere, namentlich auch
untere Gerichte nur in der überzeugenden Be-
gründetheit findet, kann jedoch dazu führen, daß
ihr Inhalt sich überall Geltung verschafft, schließ-
lich als wirkliches Recht empfunden wird, somit
die Wirkung geltenden Rechts hat, soweit er nicht
geradezu durch einen gesetzgeberischen Akt sank-
tioniert wird.
Ist, wie bemerkt, das Rechtsprechen nichts an-
deres als eine logische Operation, werden die
Schlußfolgerungen nur kraft innerer Notwendig-
keit, gewissermaßen automatisch und in ihrer Rich-
tung durch keine Willensäußerung des Richters
beeinflußt, vollzogen, so steht ferner fest, daß der
Richter für das gesprochene Urteil weder straf-
rechtlich noch zivilrechtlich zur Verantwortung ge-
zogen werden darf. Strafrechtlich wird der Richter
als solcher nur verantwortlich, wenn er sich be-
stechen läßt oder vorsätzlich einer Beugung des
Rechts schuldig macht (Str.G.B. 88 334/336).
Und was die zivilrechtliche Haftung anbelangt, so
bestimmt der § 839, Abs. 2 des B.G. B., wie
folgt: „Verletzt ein Beamter bei dem Urteil in
einer Rechtssache seine Amtspflicht, so ist er für
den daraus entstehenden Schaden nur dann ver-
antwortlich, wenn die Pflichtverletzung mit einer
im Weg des gerichtlichen Strafverfahrens zu ver-
hängenden öffentlichen Strafe bedroht ist. Auf
eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzöge-
rung der Ausübung des Amts findet die Vor-
schrift keine Anwendung.“ Dazu kommt noch, daß
eine Ersatzpflicht, soweit sie den Richter danach
dennoch treffen könnte, auch dann nicht eintritt,
wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unter-
lassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines
Rechtsmittels abzuwenden.
Besteht also die Aufgabe des Richters lediglich
darin, das vom Gesetz Gewollte zu erkennen, eine
Tätigkeit auszuüben, an der der Wille keinen
Anteil haben darf, so ergibt sich ferner unmittel-
bar, daß auch jede Einwirkung auf den Richter,
welche den Zweck hat, ihn bei der Rechtsprechung
zur Betätigung eines Willensaktes zu bewegen,
unzulässig erscheint, und daß es die erste Pflicht
des Staats ist, zur Sicherung einer solch freien
Rechtsprechung die Richter von Beeinflussungen
freizuhalten. Dieses Prinzip hat sich in Deutsch-
land allmählich seit dem Untergang der Schöffen-
gerichtsverfassung zu positiver Anerkennung heraus-
gearbeitet. Mit diesem Untergang wuchsen die
ehemals getrennten Funktionen der Urteilsfindung.
und der Gerichtsherrlichkeit des Landesherrn zu-