Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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sammen, aber nicht als Erweiterung des persön- 
lichen Machtbereichs des letzteren, sondern im Sinn 
der Ausbildung einer einheitlichen Staatsgewalt, 
die, soweit sie als richterliche Gewalt auftrat, 
„nicht mehr vom Landesherrn in Person und von 
seinen abhängigen Regierungsorganen, sondern 
nur von unabhängigen Gerichten gehandhabt wer- 
den dürfe, welche, wenn sie auch ihr Recht von dem 
Landesherrn ableiten, doch in dessen Ausübung 
von seinem Einfluß unabhängig bleiben müssen“. 
Diese Unabhängigkeit der Gerichte, die sich auf die 
Richter überträgt und hier durch mannigfache 
Vorschriften über deren persönliche Verhältnisse 
(ogl. unter II und III) gewährleistet wird, ist be- 
reits im älteren Reichs= und Landesstaatsrecht 
anerkannt und wird auch in fast allen neueren 
Verfassungen ausdrücklich proklamiert. In dem 
fast wörtlich mit dem Art. 86 der preußischen 
Verfassung übereinstimmenden § 1 des deutschen 
Gerichtsverfassungsgesetzes heißt es: „Die richter- 
liche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem 
Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt." 
Endlich folgt aus dem angegebenen Satz, daß 
der Richter selbst das aus der mehr oder minder 
langen Reihe seiner Schlüsse sich ergebende Resultat 
so hinnehmen muß, wie es sich eben ergibt, mit 
andern Worten, daß er das geltende Recht zur 
Anwendung zu bringen hat, mag das Resultat auch 
noch so unbefriedigend erscheinen. Ist der Richter 
logisch richtig verfahren, so ist für ein eventuell 
den zeitigen Anschauungen nicht entsprechendes 
Ergebnis nicht der Richter, der nun einmal an 
das Recht gebunden ist, verantwortlich zu machen, 
sondern das Recht, das diesen Anschauungen und 
den Neugestaltungen im menschlichen Verkehr nach- 
hinkt. Die Vorwürfe gegen die nicht „volkstüm- 
liche" Rechtsprechung der Berufsrichter sind daher 
zurückzuweisen. 
3. Manche Zeitperioden hindurch erschöpfte sich 
die richterliche Amtstätigkeit im Rechtsprechen. 
Die Vollstreckung der Urteile z. B. war in der 
ältesten römischen wie germanischen Zeit nicht 
Sache des Richters; aber schon der Prätor und 
später der Graf wirkte dabei mit, und weiterhin ist 
sie vollständig auf die Gerichte übergegangen, um 
nach den neuesten Verfahrensvorschriften von 1879 
ihnen teilweise wieder abgenommen und auf andere 
Beamte (Gerichtsvollzieher, Staatsanwalt) über- 
tragen zu werden. Auch eine Mitwirkung der 
Gerichte bei wichtigen Rechtsgeschäften ist schon 
im alten römischen Recht zu konstatieren. Was 
die Amtstätigkeit der heutigen Richter anlangt, so 
deckt sich dieselbe nicht mit der „Ausübung der 
Gerichtsbarkeit". Wenn man unter Gerichtsbar- 
keit die Gesamtheit derjenigen Angelegenheiten zu 
verstehen hat, welche zur Zuständigkeit und zum 
Geschäftskreis der Gerichte gehören, bzw. die amt- 
liche Befugnis, diese Angelegenheiten in rechts- 
wirksamer Weise zu erledigen, so ist einerseits der 
den Richtern übertragene Geschäftskreis enger, 
indem ein Teil dieser Angelegenheiten auch andern 
Richter. 
  
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bei den Gerichten angestellten Justizbeamten als 
richterlichen, namentlich den Gerichtsschreibern, zur 
selbständigen Bearbeitung und Erledigung an- 
vertraut ist. Anderseits sind den bei den Gerichten 
angestellten Richtern zahlreiche Geschäfte über- 
tragen, welche mit der Rechtsprechung nichts zu 
tun haben, z. B. ein Teil der Zwangsvollstreckung 
und der Vollstreckung der Strafurteile, die Be- 
arbeitung der Konkurssachen, der Grundbuch= und 
Registersachen, das ganze weite Gebiet der frei- 
willigen Gerichtsbarkeit und Justizverwaltungs- 
sachen. In Bezug auf diese Tätigkeit steht der 
Richter hinsichtlich seiner Verantwortlichkeit den 
übrigen Beamten gleich; die Garantiebestimmungen 
über die Unabhängigkeit der richterlichen Ver- 
fügungen decken aber auch diese amtliche Tätig- 
keit, soweit sie nicht in das Gebiet der Justiz- 
verwaltung fällt. 
4. Nach dem Stand am 1. Jan. 1909 waren 
bei dem Reichsgericht 1 Präsident, 11 Senatspräsi- 
denten und 88 Räte, zusammen 100 Richter, bei 
dem bayrischen Obersten Landesgericht 1 Präsident, 
2 Senatspräsidenten und 19 Räte, zusammen 22 
Richter angestellt. Die 29 Oberlandesgerichte im 
Deutschen Reich waren mit 29 Präsidenten, 109 
Senatspräsidenten und 651 Räten, zusammen mit 
789 Richtern besetzt. An den 176 Landgerichten 
befanden sich 176 Präsidenten, 590 Landgerichts- 
direktoren und 2465 Landrichter, zusammen 3231 
Richter. Die vorhandenen 1944 Amtsgerichte waren 
mit 5656 Richtern besetzt. Die Gesamtzahl der im 
Deutschen Reich angestellten Berufsrichter belief sich 
demnach am 1. Jan. 1909 auf 9798. Im Reich 
haben, verglichen mit dem Stand vom Ende des 
Jahres 1882, die Richterstellen bei den Oberlandes- 
gerichten um 265 oder 50,6 %, bei den Landge- 
richten um 1053 oder 48,3 % und bei den Amtsge- 
richten um 1403 oder 33,0% zugenommen. 
II. Nach den zurzeit in Deutschland geltenden 
Vorschriften sind, wie oben bereits bemerkt, neben 
den im berufsmäßigen Justizdienst angestellten 
richterlichen Beamten teils nach Reichs= teils nach 
Landesrecht auch Laien zur Ausübung des Richter- 
amts berufen. Diese Heranziehung geschieht teils 
auf Grund einer allgemeinen gesetzlichen staats- 
bürgerlichen Pflicht zum Gerichtsdienst, z. B. zum 
Schöffen= und Geschworenendienst, teils auf Grund 
freiwilliger Ubernahme einer richterlichen Stellung 
als eines Ehrenamts, z. B. des Amts der Beisitzer 
in den Kammern für Handelssachen. Die Laien- 
richter der ersten Kategorie nehmen zwar ein rich- 
terliches Amt wahr, genießen auch einerseits bei 
Ausübung des Amts den staatlichen Schutz und 
unterstehen anderseits den gegen Mißbrauch der 
Amtsgewalt angedrohten Strafbestimmungen, sind 
aber gleichwohl keine Beamten, haben daher weder 
Rechte noch Pflichten, welche sich aus einem auf 
Anstellung beruhenden Dienstverhältnis ergeben. 
Die der zweiten Kategorie dagegen sind richterliche 
Beamte, die sämtlichen für diese gegebenen Vor- 
schriften unterliegen, soweit sich nicht aus dem 
Umstand, daß sie nicht in einem förmlichen Ver- 
hältnis von besoldeten Staatsdienern stehen, son-
	        
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