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Kap. 35 von Roschers Geschichte der National-
ökonomik in Deutschland). Die geschichtliche oder
physiologische Methode nennt aber Roscher auch
praktisch (nicht in dem Sinn, daß ihre Lehren
von jedem Leser ohne weiteres Nachdenken auf die
Praxis können gleichsam abgeklatscht werden, —
eine solche Rezeptensammlung ist [System 1,
*29|, wo es sich um die Beurteilung von Men-
chen handelt, je zuversichtlicher und apodiktischer
ie auftritt, um so gefährlicher, irreführend und
doktrinär, — sondern) sofern sein Bestreben dar-
auf gerichtet ist, nicht sowohl im Buch selbst prak-
tisch zu sein, sondern Prakliker auszubilden. „Des-
halb machen wir aufmerksam auf die zahllosen
verschiedenen Gesichtspunkte, aus denen jede wirt-
schaftliche Tatsache betrachtet werden muß, um
allen Ansprüchen gerecht zu sein. Wir möchten
den Leser daran gewöhnen, daß er bei der gering-
sten einzelnen Handlung der Volkswirtschaftspflege
immer das Ganze nicht bloß der Volkswirtschaft,
sondern des Volkslebens vor Augen hat.“
Aber auch eine ethische Bedeutung habe diese
historisch-realistische Richtung (s. Geschichte der
Nationalökonomik in Deutschland 1034). Dies-
bezüglich kehrt „die Wissenschaft in höherer zeit-
gemäßer Form wieder zu ihren Anfängen zurück.
Die Nationalökonomen haben zuerst gefragt: Was
ist erlaubt? worauf die Antwort je nach den
Zeiten bald theoretisch bald juristisch bald philo-
sophisch lautete. Nachmals trat in den Vorder-
grund die Frage: Wasistnützlich! Hier mußte
jede tiefere Auffassung des Begriffs Nutzen, wenn
man also nicht an den Regierungs= oder Privat-
nutzen einzelner, sondern an den Nutzen des ganzen
Volks dachte, und zwar nicht bloß für den Augen-
blick, sondern für das ganze Volksleben, immer
mehr auf ethische Rücksichten zurückführen. Der
verständige Eigennutz trifft in seinen Forderungen
immer mehr mit denen des Gewissens zusammen,
je größer der Kreis ist, um dessen Nutzen es sich
handelt, und je weiter dabei in die Zukunft geblickt
wird.“ — Es können sich dabei übrigens „die
statistische Beobachtung des Nebeneinander und
die geschichtliche des Nacheinander verschie-
dener Kulturstufen in schönster Weise gegenseitig
fördern und kontrollieren" (vgl. hier endlich Roschers
Würdigung der andern Vertreter der „geschicht-
lichen“ Methode in seiner Gesch, der Nationalölo-
nomikin Deutschland 1037 u. System 1. 829, A. 4).
III. Zur Würdigung der Bedeutung Ro-
schers für die deutsche Volkswirtschaft
vgl. die ausgezeichneten Aufsätze Schmollers, Zur Li-
teraturgeschichte der Staats= u. Sozialwissenschaf-
ten (1888) u. K. Büchers, W. R., in Bd LXXVII
der Preuß. Jahrb. [1894] sowie Eisenhart, Ge-
schichte der Nationalökonomik (21910), 3. Abdr.,
184/193 u. 233/244. Nachdem die nationalöko-
nomische Literatur des 17. und 18. Jahrh. auf
vorwiegend empirischem Boden gestanden, hatten
die Physiokraten dem Rationalismus sich zugeneigt,
der in der englischen Schule mit Smith seine Blüte
Roscher.
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feierte, bis er in den späteren Nationalökonomen,
immer mehr von der Wirklichkeit sich trennend,
zu bloßer Theorie ward. Von der deutschen Phi-
lologie und Geschichtswissenschaft ging hier der
bessernde Einfluß aus. Mit Hildebrand und Knies
hat vor allem Wilh. Roscher (ogl. G. Schmoller
a. a. O. 150), der als Philologe und Historiker
begonnen, „sein Leben an die eine Aufgabe gesetzt,
die abstrakte Nationalökonomie auf den historischen
Boden zu versetzen, die kameralistischen Theorien
Raus, die naturrechtlichen der Engländer in histo-
rische zu verwandeln. Und dieses Ziel hat er er-
reicht, er hat auf dreierlei Weise daran gearbeitet:
eine Reihe von historischen, staatswissenschaftlichen
Untersuchungen angestellt, — eine gelehrte Litera-
turgeschichte der Nationalökonomie geschaffen“ und
in seinem System, „das unzweifelhaft heute das
verbreitetste Lehrbuch in Deutschland ist, auf die
allerweitesten Kreise gewirkt“. — Die Tradition der
Göttinger kulturhistorischen Schule rettend und sie
mit moderner philologischer Bildung wieder zu
Ehren bringend, „suchte Roscher nach den Natur-
gesetzen für den allgemeinen Gang der volkswirt-
chaftlichen Entwicklung. Alles Studium der Alten,
alle Benutzung neuerer Geschichtschreibung, alle
Durchforschung der Statistik dienten ihm als em-
pirisches Material zur Auffindung der allgemeinen
Wahrheiten in Bezug auf den Gang der politischen
und wirtschaftlichen Geschichte“ (Schmoller a. a. O.
154). „Was die Quesnay, Smith, Ricardo und
nach ihnen auch B. Say und Rau hatten geben
wollen, war eine aus den Erfahrungstatsachen
der modernen Volkswirtschaft abstrahierte Theorie
der Verkehrserscheinungen, die sie für Ergebnisse
rein gesellschaftlicher Betätigung hielten und in
letzter Linie immer auf die dem Menschen an-
geborenen Triebe und Neigungen zurückführten.
Die Gesetze, welche sie aus diesen Voraussetzungen
ableiteten, waren für sie Naturgesetze, weil
sie nach ihrer Auffassung durch die natürlichen
Seelenkräfte des Menschen von selbst gegeben sind
und überall Geltung beanspruchen, wo immer man
die menschliche Natur frei walten läßt. Roscher
hielt den Ausdruck „Naturgesetze“ fest und ver-
teidigte ihn“ (Bücher a. a. O. 106, 107), faßt ihn
aber anders. Nennt Roscher ja doch die National-
ökonomik die Lehre von den Entwicklungs-
gesetzen der Volkswirtschaft (Grundriß § 3;
System I. § 16) und sagt, jene Entwicklungsgesetze
der Volkswirtschaft als Naturgesetze ansehend, er
„rede von Naturgesetzen (Üüberall da), wo er
eine im weiteren Zusammenhang erklärbare Regel-
mäßigkeitwahrnimmt, die nicht auf menschlicher Ab-
sicht beruht“ (System I. 8 13, Anm. 4). Auch in
der Volkswirtschaft gibt es nämlich „Harmonien
oft von wunderbarer Schönheit, die lange be-
standen haben, als noch kein Mensch sie ahnte, —
unzählige NRaturgesetze, die nicht erst auf je-
weilige Anerkennung durch die einzelnen warten,
über welche nur derjenige Macht gewinnt, der
ihnen zu gehorchen versteht“ (System I, § 13).
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