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Es wollte Roscher so, „die besondere Methode und
das Verfahren der Forschung für sich in Anspruch
nehmend, die seit den Physiokraten und Ad. Smith
auf dem Gebiet der Volkswirtschaft geleistete Ar-
beit nicht einfach bei Seite schieben und für ver-
fehlt erklären; er wollte vielmehr die bestehende
Theorie auf eine festere Grundlage stellen, indem
er ihr Beobachtungsgebiet auf alle Völker und
Zeiten ausdehnte. Er wollte ihrer Abstraktion
größere Sicherheit verleihen, indem er das Wesent-
liche an den Erscheinungen auf vergleichende
Weise zu ermitteln sucht“, auch wollte er endlich
„die historische Erfahrung für die Wirt-
schaftspolitik nutzbar machen, indem er die tat-
sächlichen Bedingungen untersucht, unter denen die
in der Geschichte auftretenden Institutionen und
Organisationsformen der Wirtschaft wohltätig
oder nachteilig wirksam geworden waren. Darin,
daß er in diesem Punkt den absoluten Maßstab
der Franzosen und Engländer aufgab, von wel-
chem aus die einzelnen Wirtschaftsregeln entweder
schlechthin gebilligt oder verworfen werden mußten,
liegt zunächst der Unterschied gegenüber der Schule
Ricardos“ (Bücher).
Inwiefern Roscher seinen Lehrbüchern das eng-
lische System in der von Rau (zu dem er in einem
Pietätsverhältnis stand) verbesserten und von ihm
selbst mehrfach modifizierten Gliederung des Stoffs
zugrunde legte, erklärt Bücher besonders mit Bezug
auf Roschers „Grundlagen der Nationalökonomie“:
„Ist es doch der Kanon der von der Wissenschaft
als feststehend anerkannten Lehren, was er in dem
grundlegenden ersten Band seines „Systems" vor-
trägt, — die Theorie, wie sie zu einer fast mathe-
matischen Geschlossenheit ihrer Lehrsätze gelangt
war“, denen aber Roscher auf Grund seiner um-
fassenden historischen Bildung den Anspruch auf
absolute Geltung nahm. Noscher gibt aber mehr
als jenen Kanon — ein reiches, dogmengeschicht-
liches Material, welches dem Leser die Ent-
wicklung jedes wichtigen Lehrsatzes erschließt und
zu selbständigem Denken anregt.“ Hatte die „Na-
tionalökonomie unter den Händen von Ricardo
und Hermann einen Grad der Abstraktion erreicht,
unter dem ihre Verständlichkeit leiden mußte“,
hatte sie „den isolierten Menschen zur Voraus-
setzung ihrer Beweisführung genommen, — sein
wirtschaftliches Tun losgelöst von seiner übrigen
geistigen und sittlichen Existenz“, so betrachtete
Roscher „nicht den Einzelmenschen, sondern die
Völker in wirtschaftlicher Hinsicht. Er wollte
die Nationalökonomie im engsten Bund mit den
andern Wissenschaften vom Volksleben behandeln.
Und hier tritt seine historische Methode in Wirk-
samkeit. Aus der unerschöpflichen Fülle einer kaum
von einem zweiten wieder erreichten historischen
und ethnographischen Belesenheit wie aus einer
sorgfältigen Einzelbeobachtung der modernen Wirt-
schaft bringt er Erläuterungsbeispiele bei, beweist
er, daß die vorgetragenen Lehren unter bestimmten
geschichtlichen Voraussetzungen Ausnahmen und
Noscher.
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Einschränkungen erleiden, stützt und vertieft er die
Beweisführung“ (Bücher a. a. O. 110 u. 111).
Roschers Behandlung der praktischen National-
ökonomie anlangend, so ist selbige „immer am
meisten aufgefallen“. „Rau (Roschers Lehrer)
hatte im entsprechenden Teil seines Lehrbuchs
die Volkswirtschaftspolitik oder Volkswirtschafts-
pflege behandelt, hatte eine Darstellung der Re-
geln gegeben, nach welchen die Tätigkeit des
Staats auf den Gebieten des Ackerbaus, Ge-
werbes, Handels usw. eingerichtet werden soll.
Noscher gibt eine spezielle Nationalökonomie des
Ackerbaus, der Forstwirtschaft, des Handels und
Gewerbefleißes. Er will untersuchen, wie die all-
gemeinen Gesetze der Volkswirtschaft in diesem
Sondergebiet wirksam werden, und hier erreicht
denn auch seine historische Methode die größten
und bleibendsten Erfolge. Er kann zeigen, unter
welchen Bedingungen die einzelnen Betriebs= und
Verfassungsformen der verschiedenen Wirtschafts-
zweige historisch geworden, welche Wirkung sie
gehabt, wie sie heute gestaltet sind, er kann die
Pathologie und Therapie der auf diesem Gebiet
auftretenden Krankheitszustände darlegen, das
Wesen und den Wert der gesetzlichen Institutionen
erörtern, die Vorzüge und Nachteile dieser oder
jener Maßregel auseinandersetzen, alles belegt mit
anschaulichen Beispielen aus der Literatur und
eignen Erfahrung, wobei Allseitigkeit der Beob-
achtung ihm oberster Grundsatz ist“ (Bücher 116).
Roschers Lehrbücher tragen, um deren Bedeu-
tung im einzelnen kurz anzudeuten, den dogmati-
schen Lehrstoff, die rationalistische Schematik ver-
werfend, mit breiter Menschen= und Weltkenntnis
historisch und wissenschaftlich verfahrend, vor. Der
erste Band des „Systems“ enthält die alte Grup-
pierung im Anschluß an Rau mit reicher kultur-
historischer Verbrämung. Die Finanzwissenschaft
(1886) bietet „die abgeklärte Weisheit des erfah-
renen praktisch-politischen Denkers“ (Schmoller).
Dennoch werden sie von dem zweiten und dritten
Band des Systems (Nationalökonomik des Acker-
baus (1859] u. des Handels u. Gewerbefleißes
[1881) in ihrer Bedeutung weit überragt. Hier
hat der Kulturhistoriker sein rechtes Arbeitsfeld
gefunden, hier Neues, Hervorragendes geschaffen:
gegenüber der Dürftigkeit der Vorarbeiten Voll-
endetes geleistet. Schmoller bezeugt ihm, „daß er
hier Orientierungspfade durch den Urwald unserer
Erkenntnis geschlagen“ (a. a. O. 156). Einen
unvergleichlichen Fortschritt für die nationalöko-
nomische Wissenschaft bedeutet nach der Vorarbeit
von Kautz (1860) und in Ergänzung von Düh-
rings „Kritischer Geschichte der Nationalökonomie
und des Sozialismus“ (1871 u. 1875) Roschers
„Geschichte der Nationalökonomik in Deutsch-
land“. „Auf einmal war durch deutsche Gelehrte
ein Fortschritt vollzogen, wie ihn kein anderes
Land, wie ihn eine Reihe verwandter Wissen-
schaften noch nicht aufzuweisen hatten“ (Schmoller
a. a. O. 160). Ingram (Gesch. der Volkswirt-