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Religion würden alle übrigen Seiten des Volks-
lebens ihres tiefsten Grundes und Zieles ent-
behren. Die geistige Macht eines Volks besteht
in kräftiger und harmonischer Entwicklung aller
Lebenssphären: Sprache, Religion, Kunst, Wis-
senschaft, Recht, Staat, Wirtschaft“ (System I,
§ 16 u. A. 8). Noscher sagt ferner (a. a. O. A. 7)
hinsichtlich des Zusammenhangs von Wirtschaft,
Sitte und Recht (vogl. Schmollers offenes Send-
schreiben an v. Treitschke, in Hildebrands Jahrb.
II (18741 253 ff): Er denke „der Religion noch
eine bedeutendere Stellung zu: sie sei ihm eben
das höchste Ziel und zugleich der tiefste Grund
alles geistigen Lebens überhaupt“. Daher fühlte
Roscher sein Lebenswerk erst vollendet, als sein
von echt christlichem Geist getragenes „System
der Armenpflege und Armenpolitik“ ihm kurz vor
seinem Tod fast druckfertig vorlag, ein Buch, in
welchem Roscher nach den Worten seines Sohnes
im Vorwort auf jenem „bedeutsamen Gebiet, auf
dem Volkswirtschaft und Barmherzigkeit zusam-
mentreffen“, seine Gabe bewährte, „Zeitliches im
Licht der Ewigkeit zu betrachten und bei der Be-
urteilung materieller Verhältnisse auch die Be-
dürfnisse der Menschenseele zu würdigen“.
Von Interesse für die Kennzeichnung der posi-
tiven Weltanschauung Roschers ist auch, was er
(in seiner Geschichte der Nationalökonomik in
Deutschland, § 211) hinsichtlich der friedlichen
Lösung der sozialen Frage entwickelt. Er be-
tont, man könne von allen Richtungen der mo-
dernen Nationalökonomie lernen: von den Frei-
händlern, wie Freiheit und Selbsthilfe der ein-
zelnen Sporn und Zügel der Praxis sind, von
den Sozialisten, daß die geistige Hebung der
Massen ohne entsprechende Verbesserung der äußern
Lage illusorisch ist, auch, wie das Hauptaugenmerk
des Staats auf den größten Nutzen der größt-
möglichen Zahl sich richten müsse. Von den
Konservativen lerne man, daß keine wirtschaftliche
Reform gelingt ohne sittliche Besserung des Volks,
daß keine sittliche Besserung ohne reine und
lebendige Religiosität zu erreichen sei, von den
Staatsbeamten, die sich mit volkswirtschaftlichen
Problemen befassen, daß bei großen Reformen
die Mitwirkung des Staats nicht zu entbehren
sei, wie auch die Verständigung der wirtschaft-
lichen Interessen mit den übrigen nicht minder
notwendigen Seiten des Volkslebens.
Für den Katholiken zeigen Roschers Anschau-
ungen trotz des tief religiösen Zuges und des
sittlichen Ernstes, der zur größten Hochschätzung
nötigt, doch hie und da die befremdliche Erschei-
nung, daß ein solch bedeutender Mann, auf allen
Gebieten so reich unterrichtet, doch gerade hinsicht-
lich katholischer Lehre, Lebens und Sitte die ver-
kehrtesten Anschauungen hegt. Von einer Vor-
eingenommenheit ist er insofern nicht freizusprechen,
als sein Lebensgang ihn mit Katholiken und der
katholischen Kirche offenbar zu wenig in Berüh-
rung gebracht hat. Zudem schöpft er sein dies-
Roscher.
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bezügliches Wissen mit Vorliebe und fast aus-
schließlich aus akatholischen Quellen. Jedenfalls
ist er mit Vorsicht zu lesen, wo er über die katho-
lische Kirche, Priestertum, Papst, katholische Lehre
und Sitte sich äußert.
Einiges sei zur Orientierung angedeutet: Eine
Anzahl Mängel weist diesbezüglich das „System
der Armenpflege und Armenpolitik“
auf: Der katholische Begriff der Armut (§ 4 a. a. O.)
ist von Roscher verkannt, sofern sie, obwohl ein
zeitliches Üübel, „förmlich eine Mission“ haben soll,
den Stolz der Menschen zu demütigen und die
Armut im Geist zu predigen (vgl. hier auch Roschers
Schrift (1863): „Ein neuer Versuch, die Volks-
wirtschaftslehre zu katholisieren", zum Teil, wie
S. 64, 65, eine unfreiwillige, glänzende Apologie
katholischer Weltanschauung). Auch die katholische
Anschauung von „der fündentilgenden Kraft" des
Almosens befremdet ihn als „unevangelischer Ge-
danke", wobei er verkennt, daß nach katholischer
Anschauung die Reinigung durch Almosen erst
mittelbar durch Vermittlung von Gnade, Liebe,
Reue erfolgt, sofern die im Almosen bewiesene
Liebe Gottes Segen und Gnade bringt, die äußere
Gabe des Todsünders ohne innere Umwandlung
niemals irgend einen heilsverdienstlichen Wert hat
(vgl. F. Schaub, Die katholische Charitas u. ihre
Gegner [1909], insbesondere §§ 6 u. 14). Weil
Roscher die katholischen Einrichtungen so wenig
kennt, erklärt sich auch manch anderer Mangel im
„System der Armenpflege usw.“ So sind in § 48
(Heilanstalten für leibliche und geistige Kranke) —
auch in der neuesten Auflage von 1906 — „die ka-
tholischen Schwestern vom guten Hirten" gar nicht
erwähnt (in Deutschland 1000 Schwestern und
3500 Büßerinnen usw.), während für die prote-
stantischen Magdalenenhäuser ausführliche Daten
angeführt werden. Im § 13 (kirchliche Armen-
pflege) fehlen — außer dem Zitat von drei ver-
alteten Schriften in Anm. 9, die übrigens in der
3. Auflage etwas länger ausgefallen ist — alle
Daten der katholischen charitativen Veranstaltungen,
das ganze Heer von Dienern und Dienerinnen der
christlichen Liebe auf katholischer Seite bleibt un-
erwähnt, während die genaue Angabe der Diako-
nissentätigkeit diese Lücke besonders fühlbar macht.
(1907 wirkten in Preußen in der Krankenpflege
20 600 katholische Ordensschwestern und 1000 Or-
densbrüder in klösterlicher Krankenpflege; vgl.
Krose, Kirchliches Handbuch (/1908/09] 351.) Im
§537 der „Armenpflege“ wird in Bezug auf die private
„kirchliche Armenpflege“ jede Andeutung der aus-
gedehnten katholischen privaten Armenpflege ver-
mißt (in der Diözese Breslau widmen sich [nach
dem Jahrbuch des Vinzenzvereins 1909] 6860
praktisch tätige und 17 357 zahlende Mitglieder der
privaten kirchlichen Armenpflege und werden alljähr-
lich in Deutschland 20 000 Familien von den katho-
lischen Vinzenz-Männer-Vereinen und 12 000 Fa-
milien von den weiblichen Elisabethvereinen unter-
stützt). Eine Neuauflage der „Armenpflege“ wird diese
Daten und die ganze katholische Charitasbewegung
nicht ignorieren können. Erwähnt sei noch bezüg-
lich der „Armenpflege", daß z. B. im § 20 die
rührende Fürsorge der alten Kirche um die Armen
keine genügende Einschätzung findet. Auch für die
mönchische Armenpflege (a. a. O. § 21) zeigt Ro-
scher zu wenig liebevolles Verständnis. Hier fehlen