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Volkswirtschaftslehre (1890, 21905, übersetzt von
Roschlan 256/258, 263/264); Art. „W. G. Fr.
KR."“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften
VI2; Art. „R. W. G. F.“ im Wörterbuch der
Volkswirtschaft (2 Bde, 1906/08). Ilgner.]
Rousseau. II. Allgemeine Würdigung.
II. Kulturphilosophie. III. Rechts= und Staats-
philosophie. 1. Freiheit und Gesetzeszwang.
2. Rechtsstaat und Staatsvertrag. 3. Der Ge-
meinwille. 4. Die Volkssouveränität. 5. Regie-
rung und Politik. — Literatur.)
I. Jean Jacques Rousseau, geb. 28. Juni 1712
zu Genf, gest. 2. Juli 1778 zu Ermenonville bei
Paris, steht in erster Linie unter den Geistern,
welche für die in die französische Revolution aus-
mündende soziale und politische Umwälzung in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. die theoretischen
Grundlagen schufen und ihr die zündenden Schlag-
worte gaben. Einer unteren Schicht der Gesell-
schaftentstammend — sein Vater war Uhrmacher —
und trotz aller Beziehungen zu der verfeinerten
Kultur einer aristokratischen Gesellschaft der Emp-
findungsweise seines Ursprungs treu verblieben,
sein Brot zuerst in Bedienten= und Erzieherstel-
lungen, als Katasterschreiber und Musiklehrer,
dann durch schlecht entlohnte Schriftstellerei und
durch Abschreiben von Noten erwerbend und so als
Vertreter des arbeitenden Bürgers im Gegensatz
zum Inhaber ererbten oder sonst anders als durch
eigne Arbeit erworbenen Reichtums erscheinend,
ein schroffer Gegner aller jener, die von einer
erhöhten Verfeinerung der Lebensgestaltung und
einer allgemeinen Verbreitung von Kunst und Wis-
senschaft alles Heil erwarteten, ein Prediger der
Rückkehr zur Natur und zueinfacher, patriarchalischer
Sitte, der bürgerlichen Rechtschaffenheit und der
opferwilligen Liebe zum Vaterland, d. h. zum
Volk, ein Zermalmer des historisch Gewordenen,
bloß Positiven, der nur das als Recht gelten läßt,
was seiner abstrakten Regel sich fügt und aus ihr
wenigstens formell sich ableiten läßt: so erschien
er zur Zeit der Revolutionsbewegung als Ver-
kündiger der neuen Zeit, die durch eine soziale
und politische Umwälzung dem Volk — dem
dritten Stand — die Selbstbestimmung und da-
mit das Glück bringen sollte.
Aber schon ehe die politischen und sozialen Ge-
danken Rousseaus — sie sind in dem 1762 er-
schienenen Contrat social enthalten — in
jener, Rousseaus Schriften zwar nicht entstammten,
in manchem aber an ihr orientierten Revolutions-
bewegung wenigstens vorübergehend, in manchem
auch nachhaltig bleibend, die Form der Wirklich-
keit annahmen, hatten seine Schriften nach den ver-
schiedensten Seiten hin einen gewaltigen Einfluß
ausgeübt. Vor allem die „Neue Heloise“ (ver-
öffentlicht 1760/61) und der „Emil“ (1762)
-- stark wirkende Fermente in der Gärung der
eit.
Die „Neue Heloise“ bringt durch ihre Na-
turschilderungen sowie durch die packende Selbst-
Rousseau.
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offenbarung einer sensitiven, nicht so sehr von
Verstand und festem Wollen geleiteten, als im
Gefühl zerfließenden Seele eine Reihe von Seelen-
stimmungen, wie sie der damaligen Zeit auch sonst
lagen, die den Schatz komplizierter seelischer Emp-
findungsweisen um manche neue, wertvolle Nuance
bereicherten und gegenüber dem Stofflichen das
Interesse auf den psychischen Eindruck und die
Zergliederung verwickelter seelischer Zuständlich-
keiten richteten. Anderseits freilich war die Art
dieser Schilderung nur zu sehr geeignet, eine
energielose Empfindsamkeit und willensschwache
Gefühlsseligkeit, eine den objektiven Maßstab ver-
lierende einseitige Subjektivität zu befördern —
ein Vorwurf, der auch gegen manche andere
Schrift, insbesondere auch gegen die „Selbst-
bekenntnisse“ (Confessions, geschrieben 1766/69),
Rousseaus zu erheben ist. Namentlich in mora-
lischer Beziehung hat diese empfindsame Gefühls-
verschwommenheit und der damit verbundene ex-
treme Subjektivismus eine höchst bedenkliche Seite,
wenn schon einige rührsame Tränen ohne innere
Umkehr alles wieder gut machen sollen. Trotz.
alles rhetorischen Pathos, mit dem, oft hinreißend
schön, von Tugend und dem „Gewissen“ — dem
unmittelbaren sittlichen Gefühl — geredet wird,
fehlt doch der strenge sittliche Ernst. Die eigne
innere Haltlosigkeit Rousseaus, die zum Teil frei-
lich auf psychopathischer Grundlage und einer be-
jammernswerten Jugendentwicklung beruht, der
Zwiespalt zwischen dem Ideal, das er mit warmer
Empfindung erfaßt und das ihn ehrlich begeistert,
und zwischen der eignen Kläglichkeit, die sich nur
zu sehr vom Egoismus leiten und dadurch zu einer
oft ihm unbewußten Lügenhaftigkeit verleiten läßt,
die traurige Selbstbeschönigung, mit der er z. B.
das Verhalten gegen seine mit der Therese Levas-
seur erzeugten Kinder, die er ohne Erkennungs-
marke in das Findelhaus schickte, damit entschul-
digt, daß ihm selbst die Mittel zur Erziehung
ehlten und er sie der Verkommenheit der Levas-
seurschen Familie nicht überlassen wollte: alles das
piegelt sich in dieser sentimentalen Behandlung
der moralischen Schwäche wider.
Heftige Stürme entfesselte das andere Werk,
der „Emil“, welches vom Pariser Erzbischof
de Beaumont und von der Sorbonne sowie vom
Pariser Parlament und vom protestantischen Genfer
Magistrat verurteilt wurde. Es ist Rousseaus
pädagogisches Lebenswerk, das aber zugleich seine
Ansichten über Gesellschaft und Staat sowie über
die Religion enthält. Auf die Erziehungs= und
Unterrichtslehre Rousseaus näher einzugehen, ist
nicht dieses Ortes. Neben vielem völlig Ver-
kehrten oder doch Überspannten, das zumeist auf
Rousseaus Grundanschauung von der reinen Güte-
der sich selbst überlassenen Menschennatur beruht,
ist auch viel Wertvolles und Richtiges darin ent-
halten, wie die Verwerfung eines bloßen An-
bildens, statt eines Ausbildens von innen heraus,
die Forderung eines einfachen und naturgemäßen