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Lebens, das Postulat eines Ausgehens von der
Anschauung, z. B. im Geographieunterricht, und
vieles andere. Um all diese Dinge handelte es sich
in jenem Kampf auch kaum; was in Frage stand,
waren die religiösen sowie die sozialen und poli-
tischen Anschauungen. Die ersteren sind in dem in
die Schrift eingeflochtenen „Glaubensbekenntnis
des savoyischen Vikars“ enthalten. Dasselbe hat
ein Doppelgesicht. Auf das entschiedenste wendet
es sich gegen den Atheismus und Materialismus,
die innerhalb der Kreise der französischen Auf-
klärung sich breit machen. Die Existenz Gottes,
seine Einheit und Geistigkeit, seine Weisheit
und Güte, die Geistigkeit und Unsterblichkeit der
menschlichen Seele, alles das wird zwar nicht son-
derlich tief, aber in folgerecht fortschreitender und
anziehender Darstellung dargetan. Auf der andern
Seite aber werden mit den üblichen Mitteln der
von England ausgegangenen deistischen Polemik die
Möglichkeit einer Offenbarung, der Inhalt und
die Mysterien der Offenbarungsreligion auf das
schärfste bekämpft. Dem Christentum wird nur
eine rein menschliche Würdigung zuteil. Trotz
alledem hält der „savoyische Vikar“ die ausgehöhlte
Form bei, da sie für ihn gleichgültig ist und
rationalistisch umgedeutet wird: eine in den Schein
der Toleranz eingekleidete innere Unwahrheit, die
mehr noch als offene Feindschaft die positive
Gläubigkeit untergraben mußte. — Was die im
„Emil“ vorgetragenen sozialen und politischen
Anschauungen anlangt, so sind sie, soweit sie die
Ausgestaltung der Rechts- und Staatsphilosophie
besprechen, dieselben wie in dem noch zu be-
sprechenden Contrat social. Hier sei deshalb nur
auf die Grundanschauung hingewiesen, die schon
in den bekannten Anfangsworten des „Emil“" sich
ausspricht: „Alles ist gut, so wie es aus der Hand
des Urhebers der Dinge hervorgegangen ist; alles
entartet unter der Hand des Menschen.“ Im
„Emil“ soll dieser Satz vor allem jene Über-
treibung der an sich berechtigten Forderung einer
Selbstentwicklung bei Rousseau begründen, die der
Autorität und Belehrung nichts einräumt, sondern
den Zögling im Zusammenstoß mit den Dingen
und ihren Gesetzen alles selbst finden läßt, intel-
lektuell, moralisch und religiös. (Rousseau wollte
deshalb auch von einem Unterricht in der Religion
im jugendlichen Alter nichts wissen.) Der gleiche
Gedanke liegt aber, und zwar schon von Rous-
seaus ersten schriftstellerischen Versuchen an, seiner
Auffassung von der Gesellschaft und der gesell-
schaftlichen Entwicklung zugrunde, der wir uns
nunmehr zuwenden, um dann insbesondere Rous-
seaus Stellung in der Staats= und Rechtsphilo-
sophie darzustellen. .
II. Schon die erste wissenschaftliche Arbeit
Rousseaus (musikalische und dichterische Versuche
waren voraufgegangen) behandelt das Gesellschafts-
problem, und zwar in Form des Kulturpro-
blems. Die Akademie zu Dijon hatte im Jahr
1749 die Preisaufgabe gestellt: Le rétablisse-
Rousseau.
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ment des sciences et des arts a-t-il con-
tribué à épurer les me#urs? Rousseau beant-
wortete dieselbe in der „Abhandlung über die
Wissenschaften und Künste“. Es ist eine stark
rhetorische Deklamation voll arger Ubertreibungen
und schiefster, einseitigster Beurteilung, welche den
richtigen Gedanken, daß nicht so sehr das intellek-
tuelle oder künstlerische Talent als der sittliche
Charakter den wahren Wert der Persönlichkeit
ausmacht, zum einzigen Wertmaßstab der Kultur
auch als solcher, als objektive Erscheinung be-
trachtet, nimmt. Der ganze Groll des in eine ihm
im Grund fremdartige Welt gestellten, auf seine
Einfachheit und seine republikanische Tugend stolzen
Schweizerbürgers gegen die übertünchte, unter dem
Schein der Höflichkeit nur selbstsüchtige Ziele ver-
folgenden Kultur der großen Welt findet darin
einen hinreißenden, aber alles Maß und jeden
historischen Maßstab verlierenden Ausdruck. In
gleicher Proportion, sucht Rousseau zu beweisen,
wie die Wissenschaften und Künste, ist auch die
Sittenverderbnis vorangeschritten. Agypten, Grie-
chenland, insbesondere Athen, Rom, Byzanz sind
so gefallen; ebenso das uralte Kulturland China —
von dessen Weisen Voltaire so viel zu reden
wußte —, das von den Tataren unterworfen wurde.
Im Gegensatz dazu wird von den der Natur
und der ursprünglichen Tugend treu verbliebenen
Völkern, den Persern, Szythen, den Germanen
des Tacitus, von Sparta, eine idealisierende
Schilderung gemacht. (Die „Wilden“ spielen hier
noch keine besondere Rolle; sie sind erst in der fol-
genden Schrift das von Voltaire so beißend ver-
spottete Ideal.) Die Wissenschaften und Künste,
führt der zweite Teil aus, entstammen einer trüben
Quelle, haben Schlimmes zum Gegenstand und
führen zu verderblichen Folgen. Ihren Ursprung
verdanken sie unsern Fehlern; so ist die Astronomie
dem Aberglauben entsprungen, die Beredsamkeit
dem Ehrgeiz, dem Haß und der Schmeichelei, die
Geometrie dem Geiz des Landbesitzers, die Physik
der Neugier, sie alle, selbst die Moral, dem Stolz.
Den Gegenstand z. B. der Geschichte bilden Kriege,
Verschwörungen und die Taten von Gewalt-
menschen. Ebenso verderblich sind die Wirkungen
der Wissenschaften und Künste. Sie zerstören die
Liebe zu einem einfachen und arbeitsamen Leben,
verleiten zu Müßiggang und Luxus, zum Grübeln
über nutzlose Subtilitäten, untergraben die strengen
Sitten, die Tapferkeit und die kriegerische Tüch-
tigkeit und führen mit ihrer einseitigen Betonung
des Talents und der intellektuellen Kultur auf
Kosten der schlichten Tugend zu einer verderblichen
Ungleichheit unter den Menschen. Die Wissen-
schaft an sich will Rousseau nicht verdammen —
das kann er schon aus Rücksicht auf die Akademie
nicht, welche die Preisaufgabe gestellt hatte —;
von einem Bacon, Descartes, Newton spricht er
mit hoher Achtung; aber sie möge in Akademien
gepflegt, nicht unter das Volk gebracht werden.
Daß die Schriften eines Hobbes und Spinoza