Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Lebens, das Postulat eines Ausgehens von der 
Anschauung, z. B. im Geographieunterricht, und 
vieles andere. Um all diese Dinge handelte es sich 
in jenem Kampf auch kaum; was in Frage stand, 
waren die religiösen sowie die sozialen und poli- 
tischen Anschauungen. Die ersteren sind in dem in 
die Schrift eingeflochtenen „Glaubensbekenntnis 
des savoyischen Vikars“ enthalten. Dasselbe hat 
ein Doppelgesicht. Auf das entschiedenste wendet 
es sich gegen den Atheismus und Materialismus, 
die innerhalb der Kreise der französischen Auf- 
klärung sich breit machen. Die Existenz Gottes, 
seine Einheit und Geistigkeit, seine Weisheit 
und Güte, die Geistigkeit und Unsterblichkeit der 
menschlichen Seele, alles das wird zwar nicht son- 
derlich tief, aber in folgerecht fortschreitender und 
anziehender Darstellung dargetan. Auf der andern 
Seite aber werden mit den üblichen Mitteln der 
von England ausgegangenen deistischen Polemik die 
Möglichkeit einer Offenbarung, der Inhalt und 
die Mysterien der Offenbarungsreligion auf das 
schärfste bekämpft. Dem Christentum wird nur 
eine rein menschliche Würdigung zuteil. Trotz 
alledem hält der „savoyische Vikar“ die ausgehöhlte 
Form bei, da sie für ihn gleichgültig ist und 
rationalistisch umgedeutet wird: eine in den Schein 
der Toleranz eingekleidete innere Unwahrheit, die 
mehr noch als offene Feindschaft die positive 
Gläubigkeit untergraben mußte. — Was die im 
„Emil“ vorgetragenen sozialen und politischen 
Anschauungen anlangt, so sind sie, soweit sie die 
Ausgestaltung der Rechts- und Staatsphilosophie 
besprechen, dieselben wie in dem noch zu be- 
sprechenden Contrat social. Hier sei deshalb nur 
auf die Grundanschauung hingewiesen, die schon 
in den bekannten Anfangsworten des „Emil“" sich 
ausspricht: „Alles ist gut, so wie es aus der Hand 
des Urhebers der Dinge hervorgegangen ist; alles 
entartet unter der Hand des Menschen.“ Im 
„Emil“ soll dieser Satz vor allem jene Über- 
treibung der an sich berechtigten Forderung einer 
Selbstentwicklung bei Rousseau begründen, die der 
Autorität und Belehrung nichts einräumt, sondern 
den Zögling im Zusammenstoß mit den Dingen 
und ihren Gesetzen alles selbst finden läßt, intel- 
lektuell, moralisch und religiös. (Rousseau wollte 
deshalb auch von einem Unterricht in der Religion 
im jugendlichen Alter nichts wissen.) Der gleiche 
Gedanke liegt aber, und zwar schon von Rous- 
seaus ersten schriftstellerischen Versuchen an, seiner 
Auffassung von der Gesellschaft und der gesell- 
schaftlichen Entwicklung zugrunde, der wir uns 
nunmehr zuwenden, um dann insbesondere Rous- 
seaus Stellung in der Staats= und Rechtsphilo- 
sophie darzustellen. . 
II. Schon die erste wissenschaftliche Arbeit 
Rousseaus (musikalische und dichterische Versuche 
waren voraufgegangen) behandelt das Gesellschafts- 
problem, und zwar in Form des Kulturpro- 
blems. Die Akademie zu Dijon hatte im Jahr 
1749 die Preisaufgabe gestellt: Le rétablisse- 
Rousseau. 
  
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ment des sciences et des arts a-t-il con- 
tribué à épurer les me#urs? Rousseau beant- 
wortete dieselbe in der „Abhandlung über die 
Wissenschaften und Künste“. Es ist eine stark 
rhetorische Deklamation voll arger Ubertreibungen 
und schiefster, einseitigster Beurteilung, welche den 
richtigen Gedanken, daß nicht so sehr das intellek- 
tuelle oder künstlerische Talent als der sittliche 
Charakter den wahren Wert der Persönlichkeit 
ausmacht, zum einzigen Wertmaßstab der Kultur 
auch als solcher, als objektive Erscheinung be- 
trachtet, nimmt. Der ganze Groll des in eine ihm 
im Grund fremdartige Welt gestellten, auf seine 
Einfachheit und seine republikanische Tugend stolzen 
Schweizerbürgers gegen die übertünchte, unter dem 
Schein der Höflichkeit nur selbstsüchtige Ziele ver- 
folgenden Kultur der großen Welt findet darin 
einen hinreißenden, aber alles Maß und jeden 
historischen Maßstab verlierenden Ausdruck. In 
gleicher Proportion, sucht Rousseau zu beweisen, 
wie die Wissenschaften und Künste, ist auch die 
Sittenverderbnis vorangeschritten. Agypten, Grie- 
chenland, insbesondere Athen, Rom, Byzanz sind 
so gefallen; ebenso das uralte Kulturland China — 
von dessen Weisen Voltaire so viel zu reden 
wußte —, das von den Tataren unterworfen wurde. 
Im Gegensatz dazu wird von den der Natur 
und der ursprünglichen Tugend treu verbliebenen 
Völkern, den Persern, Szythen, den Germanen 
des Tacitus, von Sparta, eine idealisierende 
Schilderung gemacht. (Die „Wilden“ spielen hier 
noch keine besondere Rolle; sie sind erst in der fol- 
genden Schrift das von Voltaire so beißend ver- 
spottete Ideal.) Die Wissenschaften und Künste, 
führt der zweite Teil aus, entstammen einer trüben 
Quelle, haben Schlimmes zum Gegenstand und 
führen zu verderblichen Folgen. Ihren Ursprung 
verdanken sie unsern Fehlern; so ist die Astronomie 
dem Aberglauben entsprungen, die Beredsamkeit 
dem Ehrgeiz, dem Haß und der Schmeichelei, die 
Geometrie dem Geiz des Landbesitzers, die Physik 
der Neugier, sie alle, selbst die Moral, dem Stolz. 
Den Gegenstand z. B. der Geschichte bilden Kriege, 
Verschwörungen und die Taten von Gewalt- 
menschen. Ebenso verderblich sind die Wirkungen 
der Wissenschaften und Künste. Sie zerstören die 
Liebe zu einem einfachen und arbeitsamen Leben, 
verleiten zu Müßiggang und Luxus, zum Grübeln 
über nutzlose Subtilitäten, untergraben die strengen 
Sitten, die Tapferkeit und die kriegerische Tüch- 
tigkeit und führen mit ihrer einseitigen Betonung 
des Talents und der intellektuellen Kultur auf 
Kosten der schlichten Tugend zu einer verderblichen 
Ungleichheit unter den Menschen. Die Wissen- 
schaft an sich will Rousseau nicht verdammen — 
das kann er schon aus Rücksicht auf die Akademie 
nicht, welche die Preisaufgabe gestellt hatte —; 
von einem Bacon, Descartes, Newton spricht er 
mit hoher Achtung; aber sie möge in Akademien 
gepflegt, nicht unter das Volk gebracht werden. 
Daß die Schriften eines Hobbes und Spinoza
	        
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