Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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durch die Buchdruckerkunst vervielfältigt und allen 
zugänglich gemacht wurden, beklagt er. Die 
Tugend, die erhabene Wissenschaft einfacher Seelen, 
bedarf all dieses Aufwandes nicht. 
So großes Aufsehen diese paradoxe Deklama- 
tion gegen die Kultur erregte, so war sie doch zu 
sehr bloßes Stimmungsbild und zu grotesk in 
ihren Ubertreibungen, um den Künsten und Wissen- 
schaften, überhaupt dem Bestehenden, ernstlichen 
Schaden zuzufügen. Die Akademie konnte dieselbe 
daher ruhig mit dem Preis krönen. Anders war 
das mit der „Abhandlung über die Ungleichheit 
unter den Menschen“. 
In ihrem Programm von 1753 hatte die Aka- 
demie zu Dijon die Preisfrage gestellt, „welches 
der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen 
sei und ob sie vom Naturgesetz gerechtfertigt werde“. 
Rousseau beantwortete dieselbe in dem Discours 
sur T’origine et les fondements de l’inégalité 
Parmi les hommes. Er unterscheidet darin eine 
doppelte Ungleichheit, eine natürliche (inégalité 
naturelle ou physique), welche auf der Ver- 
schiedenheit der Lebensalter, der Gesundheit, der 
Körperkräfte und der geistigen Fähigkeiten beruht, 
und eine politische (insgalité morale ou politi- 
que), die erst aus der Einrichtung der Menschen 
hervorgeht und in den Privilegien besteht, deren 
die einen vor den andern sich erfreuen: reicher, 
geehrter, mächtiger zu sein und andere zum Ge- 
horsam zu zwingen. Nie — auch nicht im Contrat 
social — hat Rousseau die erstere, die natürliche 
Ungleichheit, geleugnet, und es ist darum ziemlich 
nichtssagend, wenn die übliche oberflächliche Polemik 
ihn schon durch den Hinweis auf ebendiese natür- 
liche Ungleichheit widerlegt zu haben glaubt. Was 
er zu untersuchen unternimmt, ist dies: „im Fort- 
gang der Ereignisse den Moment zu bestimmen, 
wo — indem der Gewalt das Recht nachfolgte — 
die Natur dem Gesetz unterworfen wurde, und zu 
erklären, durch welche Verkettung sellsamer Um- 
stände der Stärkere sich entschließen konnte, dem 
Schwächeren zu dienen, und das Volk, eine illu- 
sorische Ruhe um den Preis eines realen Glücks 
zu erkaufen“ — also das entscheidende Moment 
für den Übergang aus dem Naturzustand, der 
keine andere Ungleichheit als die physische kannte, 
zu dem Zustand rechtlichen Zwangs und der da- 
durch begründeten sozialen Ungleichheit. Wenn 
Rousseau erklärt, er wolle hierbei „die Tatsachen 
beiseite lassen“ und nur „hypothetische Räson- 
nements“ bieten, so heißt das nicht, daß er seine 
Erklärung nicht als eine geschichtliche geben, son- 
dern nur eine ideale, begriffliche Ordnung ent- 
wickeln wolle — Rousseaus Verteidiger von Fichte 
bis Haymann haben ihn so gedeutet und dann die 
Stelle auch auf den Contrat social angewandt —; 
er will vielmehr, wie der Zusammenhang der 
Stelle deutlich zeigt, sich dadurch nur nach der 
theologischen Seite hin salvieren, da die Religion 
uns lehre, „zu glauben, daß Gott selbst die 
Menschen unmittelbar nach der Schöpfung aus 
Nousseau. 
  
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dem Naturzustand gezogen habe, und daß sie 
darum ungleich seien, weil er es gewollt habe“. 
Was er als „Hypothesen“ bietet, sind historische 
Hypothesen, geschöpft aus der Natur des Men- 
schen, wie er diese auf ethnologischer Grundlage 
und aus allgemeinen philosophischen Erwägungen 
heraus sich vorstellt. Freilich, was Rousseau nun 
als solche tatsächlich liefert, ist nichts als eine 
moralisierende Utopie. 
So beginnt denn Rousseau mit einer Schil- 
derung des Naturzustands, und zwar zu- 
nächst des Urzustands des Menschen, bei der 
die Lektüre von Reisebeschreibungen und natur- 
wissenschaftlichen Werken seiner Phantasie die 
Mittel bietet, einen noch ursprünglicheren Zustand 
als den der Wilden auszumalen. Noch tierähnlich, 
ohne Sprache, ohne feste Wohnung, ohne Gerät- 
schaften, ohne Furcht, wenigstens so weit es sich 
um ihm bekannte Dinge handelte, stark und ge- 
sund: so lebte der Mensch, wie die Affen und die 
andern Tiere des Waldes, von diesen lernend, im 
Urwald, dessen reiche Fruchtbarkeit ihm alles zum 
Leben Notwendige bot. Allmählich erst gelangte 
er zur Sprache, in der zuerst Gefühle und Affekte, 
dann auch Vorstellungen sich ausdrückten (Rous- 
seau schließt sich hier im einzelnen an Condillac 
an). Einen ursprünglichen Trieb der Soziabilität, 
den, nach dem Vorgang von Aristoteles, Grotius 
und Pufendorf aus der Anlage zur Sprache als 
ursprüngliche Eigentümlichkeit des Menschen er- 
weisen wollten, erkennt Rousseau nicht an; nicht 
mit dem Ameisenstaat, wie Aristoteles, vergleicht 
er den Menschen, sondern mit Affe und Wolf. Wer, 
wie Rousseau, den idealen Staat auf dem contrat 
Ssocial aufbauen will, kann eben nicht mit Aristo- 
teles und dem älteren Naturrecht vom Menschen 
als Gesellschaftswesen (36Go## Kohrr) ausgehen. 
Anderseits aber tritt Rousseau auch Hobbes ent- 
gegen, nach dem der Mensch von Haus aus nur 
Egoist, ja, weil er das Recht nicht kennt, schlecht 
sei, und deshalb der Krieg aller gegen alle am 
Anfang stehe. Zwei Triebe, hält Rousseau dem 
entgegen, sind schon vor aller Verstandesreflexion 
im Menschen, ja (Rousseau beruft sich dafür auf 
Mandevilles Fable ofthe Bees) in Spuren schon 
im Tier rege: neben der Eigenliebe auch das Mit- 
leid (Haymann hat aus diesem Satz die Begriffs- 
konstruktion des „Naturrechts“ bei Rousseau ab- 
zuleiten versucht). So bestehen im Urzustand zwar 
keine eigentlichen moralischen Beziehungen zwischen 
den Menschen — weil die Verstandsreflexion noch 
fehlt —; die Menschen sind aber deshalb nicht 
schlecht; vielmehr stehen sie noch vor Gut und Bös. 
Unter ihnen sind physische Ungleichheiten zwar da, 
sie bleiben aber im kulturlosen Zustand noch ohne 
Bedeutung. Streit ist noch nicht vorhanden; es 
gibt kein Objekt für ihn, da sächliches Eigen- 
tum noch nicht besteht und die Erde allen reich- 
lich ihre Früchte bietet. So ist dieser Zustand 
ein glücklicher, wenn auch nicht der glücklichste; 
le cceur est en paix et le corps en santé,
	        
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