Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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seiner früheren utopistischen Phantasien, aus- 
drücklich als einen vorteilhaften (Schange avan- 
tageux) bezeichnet (II 4). 
3. Der Gemeinwille. Zweck des Staats 
ist das Gemeinwohl (le bien public: II 1). Auf 
dieses Gemeinwohl die aus dem Zusammenschluß 
der einzelnen resultierenden Kräfte des Gemein- 
wesens hinzulenken, ist die Aufgabe des schon öfter 
erwähnten Gemeinwillens (II 1; IV 1). 
In der Konstruktion jenes Gemeinwillens glaubt 
Rousseau die Zauberformel gefunden zu haben, 
nicht nur das Recht des souveränen Staats über 
die einzelnen zu begründen, sondern auch die 
Grenzen der Staatssouveränität zu bestimmen. 
Der Gemeinwille (volonté générale) ist ein 
genereller durch zwei Momente: sein Subjekt und 
sein Objekt (son essence, son objet: II 4). Er 
ist zunächst subjektiv Wille aller durch den Staats- 
vertrag (den er voraussetzt) vereinigten Individuen. 
Aber dieser Wille aller (volonté de tous) kann 
auf das Wohl eines oder mehrerer einzelnen 
gerichtet sein — selbst im Gewaltstaat könnte eine 
solche Ubereinstimmung bei sklavischen Seelen be- 
stehen —; Gemeinwille (volonté générale) 
wird jene Summe von Einzelwillen erst, wenn sie 
gleichmäßig das Wohl aller zum Gegenstand hat 
(II 3; IV 1) und sich darum auch an alle gleich- 
mäßig richtet (II 4). Ein bloßer Majoritäts- 
wille, der zwar alle zum Gehorsam zwingt, aber 
nicht auf das Gemeinwohl geht, ist ebendeshalb 
nicht Gemeinwille (III 2); ein wirklicher Gemein- 
wille ist immer gerecht (droit). Denn wenn auch 
der Mensch von Natur egoistisch ist, so wird doch 
nach Rousseaus Überzeugung gerade der Egoismus 
es hindern, daß ein einzelner als Glied des sou- 
veränen Gemeinwillens einem andern Pflichten 
auflegt, die ihm selbst unbequem sein würden 
(II 4; III 16). Wo die staatliche Gesetzgebung 
daher nicht das Gemeinwohl, sondern Klassen- 
oder andere Privatinteressen bezweckt, wo sie Sache 
der Parteien und Interessengruppen wird, da ist 
sie nicht Emanation des Gemeinwillens mehr. In 
einem solchen Fall büßt der Staat seinen Cha- 
rakter als Rechtsstaat ein; das Gesetz wird daher 
nicht nur ungerecht, sondern, da der Vertrag, auf 
dem der Rechtsstaat beruht, nicht innegehalten ist, 
überhaupt ungültig sein. Wieder zeigt sich hier, 
daß Rousseaus Theorie sich nicht darauf beschränkt, 
der positiven Rechtsentwicklung ideale Ziele zu 
stecken, sondern daß sie unter Umständen das posi- 
tive Recht durch ihre abstrakte Formel aufhebt. 
Aus der Natur des Gemeinwillens ergeben sich 
seine Existenzbedingungen und sein möglicher In- 
halt. Parteiberrschaft ist der Tod des Gemein- 
sinns (III 16). Von den einzelnen als solchen 
dagegen setzt Rousseau voraus, daß sie qualitativ 
im ganzen die gleiche Willensrichtung haben und 
nur Gradunterschiede in ihren Wünschen auf- 
weisen. Wenn keine Parteigruppen mit ihren be- 
sondern partikularen Interessen aufkommen, meint 
er daher, wird durch eine gegenseitige Aufhebung 
Rousseau. 
  
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des Plus und Minus aus dem Willen aller ein 
einheitlicher Gesamtwille resultieren (II 3; schon 
ein aristotelischer Gedanke, Polit. III, 11, 1280 a 
39 #)). Wie utopistisch dieses Rezept ist (gegen 
Aristoteles führt das Trendelenburg, Naturrecht 
(1860 463/464, aus), sieht man freilich, wenn 
Rousseau angeben soll, wie eine solche Zusammen- 
stimmung der Einzelwillen in einem Gesamtwillen 
durchgeführt werden kann, der nach ihm nicht 
„einstimmig“ zu sein braucht (II 2). Da ver- 
flüchtigt sich der konkrete Gemeinwille (der Wille 
als Subjekt) zu einer abstrakten Regel (dem Wollen 
des gemeinen Besten), und es wird vorausgesetzt, 
daß wenigstens bei der Majorität der Votierenden 
dieser Gemeinwille als ideale Norm sich findet 
(IV 1). So muß denn doch wieder die Majorität 
darüber entscheiden, was in der Richtung dieses 
Gemeinwillens liegt; und wer diesem durch Ma- 
joritätsbeschluß festgestellten Gemeinwillen sich 
nicht fügt, wird eben „gezwungen, frei — d. h. 
mit dem Gemeinwillen in Übereinstimmung — 
zu sein“ (I 7). — Den Inhalt des Gemein- 
willens bildet die Gesetzgebung (einschließlich 
des Verfassungsgesetzes). Nur sie, nicht auch die 
Regierung und die Rechtssprechung, ist nichts Par- 
tikuläres, sondern ein wirklich Allgemeines, worauf 
als sein Objekt der Gemeinwille allein zielen kann 
(II 6). Nur Gesetze, nicht Regierungshandlungen 
und Einzelakte der Rechtsprechung, haben Geltung 
für alle. Damit aber der Gesetzgebungswille auch 
wirklich auf alle in gleicher Weise sich erstrecke, 
müssen vor dem Gesetz alle gleich sein. Das 
Gesetz darf keine Ausnahmen kennen; vielmehr 
muß allgemeine Rechtsgleichheit bestehen und eben- 
so müssen an der Durchführung des Gesetzes alle 
das gleiche Interesse haben. In diesem Sinn 
(nicht in dem einer Aupfhebung der natürlichen 
Unterschiede der geistigen und körperlichen Anlagen 
oder auch aller Unterschiede des Eigentums) fügt 
Rousseau zu der Forderung der liberté die der 
Cgalité hinzu. 
Hinsichtlich des Inhalts der Gesetze stellt 
Rousseau keine materialen Beschränkungen auf. 
Nur auf die formale Begrenzung des Gesetzes- 
zwangs legt seine Konstruktion den entscheidenden 
Wert, insofern dieser in der Richtung des Ge- 
meinwillens liegen muß, nicht auf den Inhalt 
dessen, was dem Zwang unterliegen kann. Darum 
können nach Rousseau nicht nur gute, sondern auch 
schlechte Gesetze rechtsgültig sein; denn das ganze 
Volk will zwar immer das Beste, sieht es aber 
nicht immer (II 7). Insbesondere erkennt er 
kein natürliches Recht auf Religionsfreiheit an. 
In dem viel zitierten Schlußkapitel des Contrat 
soeial unterscheidet er drei Formen der Reli- 
gion, die des Menschen, des Bürgers und des 
Priesters. Die letzte — der Haß des nach einer 
äußerlichen Konversion zum Kalvinismus zu- 
rückgetretenen Rousseau gegen den Katholizismus 
zeigt sich darin, wenn er als ihre Vertreter das 
römische Christentum neben eine Religionsform
	        
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