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wie den Lamaismus stellt — gibt dem Menschen
ein doppeltes Gesetz, ein doppeltes Oberhaupt, ein
doppeltes Vaterland und hindert ihn darum, ein
guter Staatsbürger zu sein. Die zweite, die Ver-
ehrung der Staatsgötter, macht die Vaterlands-
liebe zum Gottesdienst, aber macht die Menschen
auch wahngläubig und intolerant. Die erste, rein
innerlicher Natur, wie das ursprüngliche Christen-
tum, würde unter lauter vollkommenen Menschen
am Plat sein, aber macht gleichgültig gegen das
Außere, unkriegerisch und zur Knechtschaft geneigt.
Nun erkennt Rousseau an, daß der Staat im all-
gemeinen kein Recht hat, in die Meinungen seiner
Bürger einzugreifen; denn der Staatsvertrag gibt
dem Staat nur insoweit ein Recht, als der all-
gemeine Nutzen in Frage steht. Aber eben hier-
aus folgert er, daß der Staat, wenn auch nicht
an den religiösen Dogmen als solchen, so doch an
der Religion, soweit sie in das Gebiet der gesell-
schaftlichen Pflichten eingreift, ein Interesse habe.
Darum soll der Staat verpflichtet sein, als sein
Glaubensbekenntnis (profession de foi) eine
Reihe von Sätzen aufzustellen, ohne die niemand
guter Bürger und Untertan sein könne: nicht eigent-
lich als religiöse Dogmen — weshalb er nie-
mand verpflichten könne, sie zu glauben —, wohl
aber als notwendige Bestandteile der gesellschaft-
lichen Gesinnungsweise — weshalb er jeden, der
sie nicht glaube, verbannen könne. Als Haupt-
sätze dieser auf einem Umweg doch wieder ein-
geführten, gesetzlich zu sanktionierenden „bürger-
lichen Religion“ stellt Rousseau auf: die Existenz
einer mächtigen, weisen, gütigen, vorausschauen-
den und vorsehenden Gottheit, ein zukünftiges
Leben, die Belohnung der Guten und die Be-
strafung der Schlechten, die Heiligkeit des Ge-
sellschaftsvertrags und der Gesetze. Es sind die
Grundgedanken von Rousseaus „Glaubensbekennt-
nis eines savoyischen Vikars“. Als Robespierre,
um an die Stelle der atheistischen Kommune der
Hbbertisten die deistische Republik zu setzen, im
zweiten Jahr der Republik den Kult des „höchsten
Wesens“ einführte und den Atheismus als Ver-
brechen gegen die Nation verfolgen ließ, wurde
Rousseaus Theorie zur Wirklichkeit. Mit merk-
würdiger, aber bei den Anhängern der Staats-
oberhoheit in Religionssachen oft wiederholter
Inkonsequenz verbindet Rousseau mit der Forde-
rung solcher zwangsweise durchzuführenden posi-
tiven Sätze als negativen Satz das Verbot der
Intoleranz. Nicht nur die bürgerliche Intoleranz,
sondern auch die religiöse soll davon betroffen sein,
da sie zur Herrschaft der Priester über die Könige
führe. Bürgerliche Toleranz soll denen unmöglich
sein, welche ihre Kirche für die allein seligmachende
halten. Natürlich unterschiebt Rousseau, wie so
viele, letzterem Satz einen Sinn, welchen derselbe
nach der katholischen Lehre durchaus nicht hat.
Hält er es doch für theologische Lehre, daß alle
Andersgläubigen verdammt seien und daß wer
einen Andersgläubigen liebe, Gott hasse (IV 8).
Rousseau.
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Mit diesem Hieb gegen den Katholizismus schließt
Rousseau den Contrat social. (Später, in den
„Briefen vom Berge“, fand er freilich Genf und
seine Prediger noch intoleranter als die Katho-
liken.) So erinnert er an Locke, der in seinen
„Briefen über Toleranz“ zwei von der Duldung
ausgeschlossen wissen wollte: die Atheisten, da sie
die Grundlagen der Gesellschaft zerstörten, und
die Katholiken, da sie einem auswärtigen Obern
gehorchten. Wie Locke, hebt er seine Forderung
der Toleranz selbst wieder auf, indem er die
Leugner seiner Vernunftreligion ebenso wie die
Katholiken vom Boden des auf dem Contrat social
aufgebauten Staats ausschließt.
4. Die Volkssouveränität. Durch den
Staatsvertrag erhält die soziale Gemeinschaft eine
vom Gemeinwillen geleitete absolute Gewalt über
alle einzelnen, gleich der Gewalt, die der Mensch
von Natur über jedes seiner Glieder hat. Diese
vom Gemeinwillen geleitete absolute Gewalt über
jedes seiner Glieder nennt Rousseau die Sou-
veränität (II 4). Wie man sieht, verwendet
er das Wort nicht im völkerrechtlichen Sinn zur
Bezeichnung der unabhängigen Gebietsherrschaft,
sondern im staatsrechtlichen Sinn. Es bezeichnet
die Staatsgewalt, gelegentlich auch die Stellung
des höchsten Staatsorgans (des Gemeinwillens
gegenüber den einzelnen als den Untergebenen
dieses Gemeinwillens. — Über jene drei im 17.
und 18. Jahrh. entwickelten Bedeutungen der
„Souveränität“ siehe H. Rehm, Allgem. Staats-
lehre /1899] 40/61; vgl. auch Landmann, Der
Souveränitätsbegriff bei den französischen Theo-
retikern von J. Bodin bis auf J.-J. Rousseau
11896)). Die Begriffe „Staatsgewalt" (genauer:
oberste Staatsgewalt) und „Souveränität" fallen
bei Rousseau zusammen, wie in dem berühmten
. Artikel der Deklaration der Menschenrechte von
Le principe de toute souveraineté
réside essentiellement dans la nation, und wie
vielfach auch in der neueren französischen Literatur.
Alle Staatsgewalt ist bei Rousseau auf die
Gesetzgebung gegründet, welche die für alle in
gleicher Weise geltenden allgemeinen Normen setzt.
Der Gesetzgebung, insbesondere der Verfassungs-
gesetzgebung, untersteht auch die Regierung (von
der bei Rousseau die Rechtsprechung nicht streng
geschieden ist). Der eigentliche Inhalt der Sou-
veränität ist darum nach ihm die Gesetzgebung.
„Die Akte des Souveräns können nur Gesetze
sein“ (III 1). Diese aber sind nach seinen Prin-
zipien nur dann rechtlich gültig, wenn sie vom
Gemeinwillen, vom ganzen Volk (II 6) ausgehen
und von diesem als für alle in gleicher Weise
verbindlich ausgesprochen werden. Daraus fol-
gert er dann, daß die Souveränität beim ge-
samten Volk als dem Träger des Gemeinwillens
beruht und daß sie, weil niemals ein einzelner
diesen Gemeinwillen vollkommen und dauernd in
sich verkörpern wird, unveräußerlich und unüber-
tragbar ist (II 1; III 6). Auch die von Locke