Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

735 
wie den Lamaismus stellt — gibt dem Menschen 
ein doppeltes Gesetz, ein doppeltes Oberhaupt, ein 
doppeltes Vaterland und hindert ihn darum, ein 
guter Staatsbürger zu sein. Die zweite, die Ver- 
ehrung der Staatsgötter, macht die Vaterlands- 
liebe zum Gottesdienst, aber macht die Menschen 
auch wahngläubig und intolerant. Die erste, rein 
innerlicher Natur, wie das ursprüngliche Christen- 
tum, würde unter lauter vollkommenen Menschen 
am Plat sein, aber macht gleichgültig gegen das 
Außere, unkriegerisch und zur Knechtschaft geneigt. 
Nun erkennt Rousseau an, daß der Staat im all- 
gemeinen kein Recht hat, in die Meinungen seiner 
Bürger einzugreifen; denn der Staatsvertrag gibt 
dem Staat nur insoweit ein Recht, als der all- 
gemeine Nutzen in Frage steht. Aber eben hier- 
aus folgert er, daß der Staat, wenn auch nicht 
an den religiösen Dogmen als solchen, so doch an 
der Religion, soweit sie in das Gebiet der gesell- 
schaftlichen Pflichten eingreift, ein Interesse habe. 
Darum soll der Staat verpflichtet sein, als sein 
Glaubensbekenntnis (profession de foi) eine 
Reihe von Sätzen aufzustellen, ohne die niemand 
guter Bürger und Untertan sein könne: nicht eigent- 
lich als religiöse Dogmen — weshalb er nie- 
mand verpflichten könne, sie zu glauben —, wohl 
aber als notwendige Bestandteile der gesellschaft- 
lichen Gesinnungsweise — weshalb er jeden, der 
sie nicht glaube, verbannen könne. Als Haupt- 
sätze dieser auf einem Umweg doch wieder ein- 
geführten, gesetzlich zu sanktionierenden „bürger- 
lichen Religion“ stellt Rousseau auf: die Existenz 
einer mächtigen, weisen, gütigen, vorausschauen- 
den und vorsehenden Gottheit, ein zukünftiges 
Leben, die Belohnung der Guten und die Be- 
strafung der Schlechten, die Heiligkeit des Ge- 
sellschaftsvertrags und der Gesetze. Es sind die 
Grundgedanken von Rousseaus „Glaubensbekennt- 
nis eines savoyischen Vikars“. Als Robespierre, 
um an die Stelle der atheistischen Kommune der 
Hbbertisten die deistische Republik zu setzen, im 
zweiten Jahr der Republik den Kult des „höchsten 
Wesens“ einführte und den Atheismus als Ver- 
brechen gegen die Nation verfolgen ließ, wurde 
Rousseaus Theorie zur Wirklichkeit. Mit merk- 
würdiger, aber bei den Anhängern der Staats- 
oberhoheit in Religionssachen oft wiederholter 
Inkonsequenz verbindet Rousseau mit der Forde- 
rung solcher zwangsweise durchzuführenden posi- 
tiven Sätze als negativen Satz das Verbot der 
Intoleranz. Nicht nur die bürgerliche Intoleranz, 
sondern auch die religiöse soll davon betroffen sein, 
da sie zur Herrschaft der Priester über die Könige 
führe. Bürgerliche Toleranz soll denen unmöglich 
sein, welche ihre Kirche für die allein seligmachende 
halten. Natürlich unterschiebt Rousseau, wie so 
viele, letzterem Satz einen Sinn, welchen derselbe 
nach der katholischen Lehre durchaus nicht hat. 
Hält er es doch für theologische Lehre, daß alle 
Andersgläubigen verdammt seien und daß wer 
einen Andersgläubigen liebe, Gott hasse (IV 8). 
  
Rousseau. 
  
736 
Mit diesem Hieb gegen den Katholizismus schließt 
Rousseau den Contrat social. (Später, in den 
„Briefen vom Berge“, fand er freilich Genf und 
seine Prediger noch intoleranter als die Katho- 
liken.) So erinnert er an Locke, der in seinen 
„Briefen über Toleranz“ zwei von der Duldung 
ausgeschlossen wissen wollte: die Atheisten, da sie 
die Grundlagen der Gesellschaft zerstörten, und 
die Katholiken, da sie einem auswärtigen Obern 
gehorchten. Wie Locke, hebt er seine Forderung 
der Toleranz selbst wieder auf, indem er die 
Leugner seiner Vernunftreligion ebenso wie die 
Katholiken vom Boden des auf dem Contrat social 
aufgebauten Staats ausschließt. 
4. Die Volkssouveränität. Durch den 
Staatsvertrag erhält die soziale Gemeinschaft eine 
vom Gemeinwillen geleitete absolute Gewalt über 
alle einzelnen, gleich der Gewalt, die der Mensch 
von Natur über jedes seiner Glieder hat. Diese 
vom Gemeinwillen geleitete absolute Gewalt über 
jedes seiner Glieder nennt Rousseau die Sou- 
veränität (II 4). Wie man sieht, verwendet 
er das Wort nicht im völkerrechtlichen Sinn zur 
Bezeichnung der unabhängigen Gebietsherrschaft, 
sondern im staatsrechtlichen Sinn. Es bezeichnet 
die Staatsgewalt, gelegentlich auch die Stellung 
des höchsten Staatsorgans (des Gemeinwillens 
gegenüber den einzelnen als den Untergebenen 
dieses Gemeinwillens. — Über jene drei im 17. 
und 18. Jahrh. entwickelten Bedeutungen der 
„Souveränität“ siehe H. Rehm, Allgem. Staats- 
lehre /1899] 40/61; vgl. auch Landmann, Der 
Souveränitätsbegriff bei den französischen Theo- 
retikern von J. Bodin bis auf J.-J. Rousseau 
11896)). Die Begriffe „Staatsgewalt" (genauer: 
oberste Staatsgewalt) und „Souveränität" fallen 
bei Rousseau zusammen, wie in dem berühmten 
. Artikel der Deklaration der Menschenrechte von 
Le principe de toute souveraineté 
réside essentiellement dans la nation, und wie 
vielfach auch in der neueren französischen Literatur. 
Alle Staatsgewalt ist bei Rousseau auf die 
Gesetzgebung gegründet, welche die für alle in 
gleicher Weise geltenden allgemeinen Normen setzt. 
Der Gesetzgebung, insbesondere der Verfassungs- 
gesetzgebung, untersteht auch die Regierung (von 
der bei Rousseau die Rechtsprechung nicht streng 
geschieden ist). Der eigentliche Inhalt der Sou- 
veränität ist darum nach ihm die Gesetzgebung. 
„Die Akte des Souveräns können nur Gesetze 
sein“ (III 1). Diese aber sind nach seinen Prin- 
zipien nur dann rechtlich gültig, wenn sie vom 
Gemeinwillen, vom ganzen Volk (II 6) ausgehen 
und von diesem als für alle in gleicher Weise 
verbindlich ausgesprochen werden. Daraus fol- 
gert er dann, daß die Souveränität beim ge- 
samten Volk als dem Träger des Gemeinwillens 
beruht und daß sie, weil niemals ein einzelner 
diesen Gemeinwillen vollkommen und dauernd in 
sich verkörpern wird, unveräußerlich und unüber- 
tragbar ist (II 1; III 6). Auch die von Locke
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.