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nehmen könnte. Selbst den ursprünglichen Staats-
vertrag ist es an sich berechtigt aufzulösen, falls
nämlich einmal alle sich darüber einen würden, es
sei besser, überhaupt ohne Staat zu leben (III 18).
Freilich will Rousseau nicht, daß eine solche stets
mit Gefahren verbundene Umwälzung leichtfertig
vorgenommen werde. Aber „diese Vorsicht ist eine
politische Maxime, kein Rechtsgrundsatz“
(III 18). — Mit dieser Stellung von gesetzgeben-
der und ausübender Gewalt hängt es auch zu-
sammen, daß während der regelmäßigen und außer-
ordentlichen Versammlungen, in denen das Volk
gesetzgebend tätig ist, die Befugnisse der Exekutive
aufgehoben sind (III 14). Natürlich will Rous-
seau damit nicht sagen, was man ihm wohl im-
putiert hat, daß während dieser Zeit die Befug-
nisse und die Tätigkeit jedes Bürgermeisters oder
Polizeidieners völlig ruhen. Nach dem Zusam-
menhang will er nur die Immunität jedes der zur
Volksversammlung vereinigten Bürger während
deren Dauer aussprechen.
Rousseaus Theorie der Verfassungsformen
schließt sich im Außern an das Herkömmliche an,
gibt diesem aber einen neuen Sinn. Da nach ihm
Rechtsstaat nur derjenige Staat ist, in welchem
die Souveränität vom ganzen Volk ausgeübt wird,
und da diese Ausübung der Souveränität nach
ihm in der Gesetzgebung besteht, so sind in seiner
Theorie die Unterschiede der Staatsverfassung
(constitution de I’état: III 13) nur solche der
Regierungsform. Diese kann monarchisch,
aristokratisch oder demokratisch sein, je nachdem
die ausführende Gewalt einer einzelnen Persön-
lichkeit übertragen wird (die sie dann weiter dele-
giert), oder einer Mehrheit von Personen, oder
allen (so daß Souverän — d. h. das souveräne
Volk — und Herrscher zusammenfallen). Aber
gegenüber den empirischen Staaten muß Rous-
seau seine Einteilung erweitern. So unterscheidet
er (vgl. schon Platos „Staatsmann") Staaten,
deren Regierung sich durch das vom Gemein-
willen festgestellte Gesetz und vom Interesse für
das Gemeinwohl leiten läßt, von solchen, bei denen
dies nicht der Fall ist, und nennt die ersteren Re-
publiken, ihre Regierungsform republika-
nisch. „Republik“ ist auch diejenige Monarchie,
deren Herrscher sich nicht als Souverän betrachtet,
sondern nach den vom Volk erlassenen Gesetzen
regiert (II 6). Der Gegensatz würde die despo-
tische Regierung sein (doch steht das Wort „re-
publikanisch" bei Rousseau gelegentlich auch im
Gegensatz zu monarchisch: z. B. III 6). Kant hat
diese Bestimmungen herübergenommen (s. Bd II,
Sp. 1593/1594). — Auch die Entartungen der
gesetzmäßigen Staatsformen: Anarchie, Oligarchie,
Tyrannis, Despotie, werden besprochen (III 10),
ebenso die gemischten Staatsverfassungen (III 7).
Aber das ist keine Rechtslehre im Sinn Rous-
seaus mehr, sondern Politik.
In das Gebiet der Politik gehören auch die
Betrachtungen über den Wert der verschiedenen
Rousseau.
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Regierungsformen. Rein theoretisch stellt er die
Demokratie am höchsten. In ihr fallen Herrscher
und Souverän zusammen. „Wenn es ein Volk
von Göttern gäbe“, meint er daher, „so würde es
sich demokratisch regieren. Aber Menschen kommt
eine so vollkommene Regierung nicht zu.“ Die
sämtlichen Bürger des Staats müßten ja in einer
demokratisch regierten Republik ohne Unterbrechung
versammelt bleiben. Die Einsetzung von Kom-
missionen würde die Regierungsform schon ändern.
Eine Demokratie im strengen Sinn des Worts
hat es darum nach Rousseau niemals gegeben und
wird es niemals geben. Sie löst die Regierungs-
gewalt auf und wäre „eine Regierung ohne Re-
gierung“ (III 4). Umgekehrt hat die Monarchie
eine starke Exekutive; denn je geringer die Zahl
der Regierenden, desto stärker ist die Regierung
(III 2). Sie ist deshalb für große Staatengebilde
die sachgemäße Regierungsform (III 3). Aber
Großstaaten will Rousseau, wie wir sahen, nicht.
Außerdem, meint er (III 6), sei der Monarch ge-
neigt, stets sein Privatwohl ins Auge zu fassen;
selbst die Mahnung, daß er sein eignes Interesse
am besten durch die Pflege des Gemeinwohls för-
dere, verfange bei ihm nicht. Unfähig, die histo-
rische Bedeutung einer mit dem Staat und Volk
verwachsenen Monarchie und die daraus sich er-
gebenden Imponderabilien zu erfassen, kennt der
geborne Genfer Republikaner den Monarchen nur
im Spiegel Machiavellis, von dessen „Fürsten“ —
„dem Buch der Republikaner“ — er eine höchst
eigentümliche, freilich schon von Spinoza (tract.
pol. V 6) ihm dargebotene Auffassung hat (val.
N. v. Mohl, Gesch. u. Lit. der Staatsw. III1858!
563/566). Sobleibt die Aristokratie, von der Rous-
seau drei Formen unterscheidet, die naturwüchsigebei
der ersten Entstehung der Gesellschaft, die Wahl-
und die Erbaristokratie. Die erste eignet sich nur für
primitive Völker, die dritte ist die schlechteste aller
Regierungsformen, die zweite die beste. Sie besteht
darin, daß auf Grund einer Wahl durch das Volk
die Weisesten die Menge regieren (III 5). — Wie
man sieht, ist die beste Verfassung Rousseaus im
Grund gar nicht Aristokratie in der herkömmlichen
Bedeutung, sondern eine Demokratie im weiteren
Sinn, bei der die Regierung gewählten Repräsen-
tanten überwiesen ist, eine repräsentative
Demokratie im modernen Sinn, freilich mit dem
bedeutungsvollen Unterschied, daß die Repräsen-
tation auf die Regierung beschränkt, für die Ge-
setzgebung dagegen ausgeschlossen wird.
Ein näheres Eingehen auf die Rousseauschen
Grundsätze der Regierung und Politik ist hier
nicht möglich. Hervorgehoben sei nur, daß er das
einzig sichere Kennzeichen für die Güte der Re-
gierung in der Zunahme der Bevölke-
rungszahl erblickt.
Überaus groß war die Einwirkung der Rous-
seauschen Theorie, insbesondere des Contrat
social, auf die Folgezeit. Theoretiker und Poli-
tiker, insbesondere die der französischen Revolu-