771
hafteten dagegen solidarisch für die Steuern. Die
neue Gerichtsordnung trennte Justiz und Verwal-
tung, führte einen unabhängigen Richterstand ein,
Gemeindegerichte für die Bauern, Friedensgerichte
(Amtsgerichte) mit gewählten Richtern, Kreisge-
richte (mit Geschworenen für Strafsachen), Appel-
lationsgerichte und einen Kassationshof. Frucht-
bare, in der Folge jedoch nicht ausgebaute, sondern
beschränkte Neuerungen waren die Einführung von
gewählten Semstwoversammlungen (Kreis= und
Gouvernementslandtagen, 13. Jan. 1864) und die
Städteordnung (1870, nach preußischem Vorbild).
Die Reformen hatten naturgemäß viele Gegner,
und der Zar besaß nicht die eiserne Konsequenz
seines Vaters, sondern war eine leicht bestimmbare
Natur. Eine höchst unglückliche Wirkung übte der
polnische Aufstand 1863 aus, nicht nur für Polen
selbst, das jetzt durch Murawiew und Berg von
neuem geknechtet wurde, sondern für das ganze
Reich, da jetzt die Reaktion, die durch die Schule
Katkows und Aksakows vertretene Dreiheit Auto-
kratie, Orthodoxie und Panslawismus an Einfluß
gewann. Die Ausschreitungen der radikalen, viel-
fach im Ausland gebildeten und revolutionär ge-
wordenen Jugend hatten Gegenmaßregeln zur
Folge, die selbst wieder oft über das Ziel hinaus-
schossen. Die Geheimbünde führten einen zähen
und entschlossenen Krieg gegen die Behörden.
1879 wurde der Zar förmlich zum Tod verurteilt
und nach mehreren mißlungenen Attentaten, als
er eben eine Art Parlament schaffen wollte, am
13. März 1881 ermordet. — Unter Alexander II.
wurde 1864 die Unterwerfung des Kaukasus voll-
endet und 1865/84 Turkestan erobert. Durch die
Verträge mit China von 1858 und 1860 erhielt
Rußland das Gebiet des unteren Amur bis zum
Flüßchen Ussuri und längs der Meeresküste bis
Korea, und 1875 gewann es die Insel Sachalin
von Japan. Dagegen trat Alexander seine Be-
sitzungen in Nordamerika gegen sieben Millionen
Dollars an die Vereinigten Staaten ab (1867).
Auf der Londoner Konferenz, 13. März 1871,
erreichte Rußland die Aufhebung des Artikels des
Pariser Friedens, der ihm das Halten einer Flotte
auf dem Schwarzen Meer verbot; die Dardanellen
blieben jedoch geschlossen. Durch die panslawistische
Agitation wurde Rußland 1877 zum Krieg mit
der Türkei getrieben; seine Ergebnisse (Frieden
von S. Stefano) wurden jedoch auf Verlangen
Englands und Osterreichs, die sich der Auflösung
der Türkei widersetzten, auf dem Berliner Kongreß
(13. Juli 1878) wesentlich zu ungunsten Ruß-
lands beschränkt. Es mußte auf die Ausdehnung
Bulgariens zum Agäischen Meer verzichten und
erhielt nur den 1856 abgetretenen Teil Bessara-
biens, Kars, Ardahan und Batum. Seitdem ist
die öffentliche Meinung Rußlands, der auch Alex-
ander III. entgegenkam, mehr und mehr deutsch-
feindlich geworden.
Alexander III. (1881/94) kehrte wieder zu den
Maximen seines Großvaters zurück. Die freisin-
Rußland.
772
nigen Reformen seines Vaters wurden, soweit es
anging, abgeschafft und die absolute kaiserliche
Machtvollkommenheit auf allen Gebieten wieder-
hergestellt. Vom Parlament war keine Rede mehr.
Die extrem national-russische Partei (Katkow,
Pobjedonoszew) übte maßgebenden Einfluß auf
den Kaiser. Rücksichtsloser als sein Vater ging er
gegen Polen vor. Die Rechte der katholischen und
der lutherischen Kirche wurden für erloschen erklärt,
die Privilegien der Ostseeprovinzen nicht mehr
bestätigt. In beiden Ländern wurde unter grau-
samer Verfolgung der Widerstrebenden an der
zwangsweisen Ausbreitung der russischen Kirche
und Sprache gearbeitet. Selbst Privatschulen mit
fremder Sprache wurden verboten. Die unter
Alexander II. milder gehandhabten Gesetze über
Kinder aus Mischehen und über Abfall vom ortho-
doxen Glauben und Beihilfe dazu wurden wieder
streng durchgeführt. Die Juden wurden streng in
ihre Ansiedlungsrayons verwiesen oder ausgewiesen.
Indessen erhob sich der Geheimbund der Nihilisten
zu einer furchtbaren Macht, welche das Leben des
Zaren durch wiederholte Attentate bedrohte und
der viele seiner Beamten zum Opfer fielen. Alex-
ander mußte sich, um sein Leben zu sichern, auf
seinen Reisen und selbst in seinen Palästen mit
starker militärischer Bedeckung umgeben. Die
nihilistischen Umtriebe hatten ein neues Universi-
tätsstatut zur Folge, welches die Söhne Unbemit-
telter vom Studium ausschloß und die Hochschulen
unter ein strenges Polizeisystem stellte. In der
äußern Politik trat seit dem Berliner Kongreß
eine Annäherung zwischen Rußland und Frank-
reich ein, doch ließ sich Alexander III. trotz Frank-
reichs Werben zu keinem Bündnis herbei. Das
Vordringen an die Grenze von Afghanistan hatte
eine Spannung zwischen Rußland und England
zur Folge. Durch die transkaspische Bahn wurden
die fruchtbaren Gebiete Turkestans dem Reich
näher gerückt, wie denn überhaupt die Erweite-
rung des russischen Eisenbahnnetzes nebst der Ver-
besserung und Vermehrung des Heeres eine Haupt-
sorge des Kaisers bildete. Auch die transsibirische
Bahn wurde 1889 begonnen.
Das Bündnis mit Frankreich kam unter Ni-
kolaus II. 1897 zustande, hat jedoch für Rußland
mehr finanzielle Bedeutung. Eine Gefährdung
des Friedens trat dadurch nicht ein, vielmehr schien
Rußland an die Spitze der Friedensbewegung
treten zu wollen (1898 Rundschreiben des Mini-
sters des Auswärtigen Murawiew über eine all-
gemeine Abrüstung, Anregung der ersten Haager
Konferenz) und einigte sich mit Osterreich-Ungarn
über eine gemeinsame Balkanpolitik (1897 und
1903 Abkommen über die mazedonische Frage).
Der eigentliche Grund dieser friedlichen Politik
in Europa war das erhöhte Interesse, das Ruß-
land dem mittleren und fernen Osten zuwandte,
wo es am Persischen Meerbusen und am Stillen
Ozean eine bessere Verbindung mit der See suchte.
Persien wurde durch eine Anleihe (1902), Grün-