Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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dung von Banken und Bau von Verkehrswegen 
mehr in die russische Interessensphäre gezogen. 
Im Osten wurde die Halbinsel Kwangtung am 
Gelben Meer mit Port Arthur am 28. März 
1898 von China auf 25 Jahre gepachtet, Port 
Arthur und Wladiwostok zu starken Kriegshäfen 
ausgebaut, in Dalnyj eine neue Handelsstadt ge- 
schaffen, 1901 die transsibirische Bahn eröffnet. 
Gelegentlich der Boxerunruhen besetzte Rußland 
1901 die Mandschurei und verstärkte seinen wirt- 
schaftlichen und politischen Einfluß in Korea. 
Dies führte 1904 zum Krieg mit Japan, der aber- 
mals die Schwäche des Riesenreichs, die unge- 
nügende Leistung seiner Leiter und die Korrup- 
tion der Verwaltung offenbarte und seine äußere 
Machtstellung und noch mehr sein inneres Staats- 
leben erschütterte. Im Frieden von Portsmouth, 
5. Sept. 1905, mußte Rußland die südliche Hälfte 
von Sachalin und seine Pachtrechte an der Kwan- 
tunghalbinsel an Japan abtreten, dessen Vorherr- 
schaft in Korea anerkennen und ihm die süd- 
mandschurische Bahn bis Kwangtschöngtse über- 
lassen, blieb aber wenigstens von einer Kriegs- 
kostenentschädigung verschont. Die Beziehungen. 
zu Japan wurden durch eine Reihe weiterer 
Verträge geregelt (zuletzt über die Mandschurei 
am 4. Juli 1910); Rußland hat seine Politik im 
fernen Osten nicht ganz aufgegeben, wie die Be- 
willigung der Amur= und des zweiten Gleises 
der transsibirischen Bahn (1908) beweist, sucht 
aber jetzt seine Absichten, die sich auf dauernde 
Festsetzung in der nördlichen Mandschurei und den 
Gewinn eines Teils der Mongolei richten, im 
Einverständnis mit Japan zu erreichen. Auch der 
Gegensatz zu England wurde beigelegt, nachdem 
jahrzehntelang ein Krieg wegen der Interessen 
in Mittelasien, „der Kampf zwischen Bär und 
Walfisch“, gedroht hatte. Im Vertrag vom 
31. Aug. 1907 gab Rußland seine Absichten auf 
Tibet, Afghanistan und den Persischen Golf auf 
und erhielt dafür die nördliche Hälfte Persiens 
als Interessensphäre zugewiesen. Die Annäherung 
an England hatte den Abbruch der guten Be- 
ziehungen zu Osterreich zur Folge, doch endete der 
Versuch Rußlands, während der Balkankrise 
1908/09 für sich die Offnung der Dardanellen 
und für Serbien und Montenegro territoriale 
Kompensationen auf Kosten OÖsterreichs zu ge- 
winnen, mit einer diplomatischen Niederlage. 
Die innern Zustände waren nach wie vor un- 
befriedigend. Viele Schwierigkeiten machten die 
Finanzen; die Finanzminister Wyschnegradskij 
(1887/92) und Witte (1898/19083) suchten auf 
Kosten der Volksernährung durch gesteigerte Aus- 
fuhr von Getreide, das statt der Steuern nach der 
Ernte eingezogen wurde, die Zahlungsbilanz Ruß- 
lands aufrecht zu erhalten. Von bedenklichem volks- 
wirtschaftlichen Wert war auch die Einführung des 
Branntweinmonopols durch Witte (1895/1901), 
das den Staat an der Steigerung des Schnaps- 
konsums interessierte, und die künstliche Förderung 
  
Rußland. 
  
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der Industrie. Hungersnöte, Bauern= und Stu- 
dentenunruhen, Streiks, Judenhetzen häuften sich. 
Statt den Wünschen nach Gewährung größerer 
Freiheiten entgegenzukommen, bezeichnete der Zar 
noch 1895 das Verlangen der Semstwos nach Teil- 
nahme an der Regierung als sinnlose Träumereien. 
Ein drakonischer Ukas vom 29. Juli 1899 er- 
mächtigte die Verwaltung, Studenten mit 8jäh- 
riger Verweisung ins Heer zu bestrafen. Die Folge 
davon war 1901 die Ermordung des Kufltus- 
ministers Bogoljepow, dem kurz darauf der Mi- 
nister des Innern Ssipjägin folgte. Dessen Nach- 
folger Plehwe, der die revolutionäre Bewegung 
mit eiserner Hand niederzuhalten suchte, wurde 
1904 gleichfalls ermordet; fast gleichzeitig fiel der 
Generalgouverneur von Finland, der dort als 
Diktator die Russifizierung durchzuführen suchte, 
einem Attentat zum Opfer. Die Regierung kam 
nun doch etwas entgegen. Der als liberal geltende 
Fürst Swjätopolk-Mirski wurde zum Minister 
des Innern ernannt, auch ein Kongreß der Semstwo 
gestattet, der im November 1904 in Moskau tagte 
und unter Führung der Moskauer Semstwo 
(Schipow) Religions-, Rede-, Preßfreiheit und 
eine Volksvertretung forderte. Unter dem Einfluß 
Pobjedonoszews erklärte sich jedoch im Dezember 
der Reichsrat dagegen. Nun brach, mitveranlaßt 
durch den unpopulären und schlecht vorbereiteten 
Krieg, die schleichende Revolution offen aus. In 
den südrussischen Gouvernements Kijew, Charkow, 
Odessa trug sie einen anarchistisch-antisemitischen, 
in Moskau und St Petersburg einen sozialrevo- 
lutionären Charakter; in den fremdsprachigen 
Provinzen Polen, Transkaukasien und Livland, 
wo eine förmliche Jacquerie wütete, ebenso in 
Finland mischten sich zugleich nationalistische Be- 
strebungen hinein, die auf Autonomie oder we- 
nigstens kulturelle Selbständigkeit hinausliefen. 
Als Gegenstück gingen unter Konnivenz der Re- 
gierung Hetzen gegen die Juden, die sich besonders 
an der Revolution beteiligten, und sonstige reaktio- 
näre Ausschreitungen daneben her. Semstwo, In- 
telligenz und die Arbeiterschaft, in der sich 1891 
eine sozialdemokratische, um 1900 eine sozialrevo- 
lutionäre Partei organisiert hatten, und eine rasch 
anwachsende oppositionelle Presse erneuerten immer 
ungestümer die freiheitlichen Forderungen. Am 
22. Jan. 1905 kam es bei der vom Popen Ga- 
pon geführten Arbeiterdemonstration in St Peters- 
burg erstmals zu einem größeren Zusammenstoß 
mit dem Militär, worauf General Trepow hier 
die Militärdiktatur übernahm. Am 17. Febr. 
wurde Großfürst Sergius, ein Hauptvertreter des 
autokratischen Regiments, ermordet. 
Jetzt entschloß sich die Regierung endlich zum 
Nachgeben. Ein Reskript vom 3. März 1905 an 
den neuen Minister des Innern, Bulygin, stellte 
die Heranziehung von Volksvertretern zur Be- 
ratung der Gesetze und Ausarbeitung des Budgets 
in Aussicht; zugleich wurde ein Komitee zur Vor- 
bereitung von Reformen eingesetzt. Das Toleranz= 
25“
	        
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