Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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edikt vom 29. April 1905 hob die auf Abfall von 
der orthodoxen Kirche gesetzten Strafen auf, wor- 
auf eine Viertelmillion, meist Polen, zur katho- 
lischen Kirche zurückkehrten. Die von Bulygin 
ausgearbeiteten Verfassungen vom 26. Juni und 
19. Aug. befriedigten nicht, weil sie nur eine be- 
ratende und die Finanzen kontrollierende Duma- 
vorsahen, nicht die in konstitutionellen Staaten 
üblichen Garantien für die perfönliche Freiheit 
enthielten und nur ein indirektes, durch Zensus 
und ständische Einteilung beschränktes Wahlrecht 
verleihen wollten. Unter dem Eindruck des im Ok- 
tober ausbrechenden Generalstreiks der Arbeiter, 
Verkehrsanstalten und der Intelligenz und zu- 
gleich unter dem Druck der Geldmächte willigte 
die Regierung im Verfassungsmanifest vom 
30. Okt. 1905 in eine gesetzgebende Reichsduma 
ein; die zugleich verliehenen Freiheiten für Reli- 
gion, Rede, Presse, Versammlungen, Vereine 
waren freilich vorerst zum Teil illusorisch, weil in 
zwei Dritteln des Reichs der Kriegszustand oder 
der verstärkte Schutz verkündet waren. Zugleich 
wurde ein einheitliches Kabinett geschaffen, an 
dessen Spitze im November Witte trat, während 
Pobjedonoszew sich ins Privatleben zurückzog. 
Am 24. Nov. wurde die Präventivzensur aufge- 
hoben. Durch eine Reihe von Erlassen, nament- 
lich vom 24. Dez., wurde das Wahlrecht ausge- 
dehnt, aber am Grundcharakter des Bulyginschen 
Entwurfs festgehalten, der namentlich die nicht- 
besitzenden Klassen in den Städten benachteiligte. 
Am 5. März 1906 wurde der Reichsrat als erste 
Kammer konstituiert und eine Ordnung für die 
beiden gesetzgebenden Körperschaften erlassen. Be- 
reits am 21. wurde das Budgetrecht der Duma 
wieder eingeschränkt, das Recht der Gesetzesinitia- 
tive ihr am 6. Mai entzogen (infolge des Ausfalls 
der Wahlen). Am 8. Mai wurden diese Funda- 
mentalgesetze als Reichsgrundgesetz zusammenge- 
faßt. Kurz vor dem Zusammentritt der Duma 
wurde Witte, nachdem er eine Anleihe zum Ab- 
schluß gebracht, durch Goremykin ersetzt. 
Die erste Duma trat am 10. Mai 1906 im 
Taurischen Palais zusammen. Trotz der Wahl- 
arbeit der Regierung hatte die Opposition die 
Mehrheit. Ihren Kern bildeten die Kadetten (kon- 
stitutionelle Demokraten); links von ihnen standen 
die Radikalen, Arbeiter und Bauern, Sozialdemo- 
kraten, Sozialrevolutionäre, der jüdisch-polnische 
Bund, rechts von ihnen die konstitutionellen Okto- 
bristen und mehrere monarchistische oder autokra- 
tische Gruppen, wovon der Verband der echt rus- 
sischen Leute die extremste bildete. Die Duma kam 
bald mit der Regierung in Konflikt, da sie die 
Aufhebung der erwähnten Beschränkung ihrer Be- 
sugnisse, Ministerverantwortlichkeit, Einkammer- 
system, trotz der fortdauernden Gewalttaten, De- 
monstrationen, Attentate und Bankräubereien eine 
allgemeine Amnestie und Abschaffung der Todes- 
strafe verlangte. Die wichtigste Frage war die 
Linderung der Landnot der Bauern. Die Duma 
  
Rußland. 776 
verlangte Überweisung eines Teils der Staats- 
domänen, Apanage-, Kron-, Schatull= und 
Kirchengüter ohne, Enteignung eines Teils des 
Großgrundbesitzes gegen Entschädigung und wie- 
gelte schließlich durch einen Aufruf das Landvolk 
auf, worauf sie am 22. Juli aufgelöst wurde. 
Ein Aufruf zur Rekruten- und Steuerverweige- 
rung, den ein Teil der Duma tags darauf von 
Wiborg auf finnischem Boden erließ, blieb ohne 
Erfolg. Es gelang dem bei der Auflösung der 
Duma ernannten Ministerpräsidenten Stolypin, 
durch Verhängung des Kriegszustands, Einsetzung 
von Feldgerichten und Ankündigung volksfreund- 
licher und freiheitlicher Maßregeln einigermaßen 
ruhige Zustände herzustellen. Die wichtigsten 
dieser von der dritten Duma legalisierten Maß- 
regeln waren die Uberweisung mehrerer Millionen 
Deßjätinen an die Bauern, die Aufhebung der 
Gebundenheit der niedern Klassen an ihren Stand 
(18. Okt.) und der Bauern an den Mir (22. Nov.; 
Freizügigkeit, Abschaffung der Solidarhaft für die 
Steuern) und die Religionsfreiheit für die Sekten 
der orthodoxen Kirche (30. Okt.). — Auch die 
zweite, am 5. März 1907 eröffnete Duma, in 
der die Extremen von rechts und links die Mehr- 
heit hatten, war ein Tummelplatz demagogischer 
Agitation und wurde am 16. Juni aufgelöst. Zu- 
gleich wurde verfassungswidrig ein neues Wahl- 
gesetz erlassen, wodurch das Wahlrecht der städti- 
schen Bourgeoisie und besonders des Großgrund- 
besitzes auf Kosten der Bauern und Arbeiter 
verbessert wurde; Polen behielt das frühere Wahl- 
recht, aber nur ein Drittel seiner Abgeordneten- 
zahl, Turkestan und Ostsibirien verloren das 
Wahlrecht ganz. Die Absicht der Regierung wurde 
erreicht, denn die am 14. Nov. 1907 eröffnete 
dritte Duma bestand größtenteils aus Gemäßigten 
und Anhängern der monarchistischen Gruppen; 
die stärkste und eigentliche Regierungspartei wur- 
den die Oktobristen. Infolgedessen kam die Re- 
gierung wieder mehr auf die Bahn der autokrati- 
schen und russifizierenden Tendenzen. Manche 
Zugeständnisse hinsichtlich der Schulen und der 
Selbstverwaltung wurden wieder zurückgenommen, 
die meisten Landesverteidigungsfragen durch „Er- 
läuterung der Grundgesetze“ (Ukas vom 6. Sept. 
1909) der ausschließlichen Kompetenz des Zaren 
überwiesen, durch ein Gesetz von 1910 den Russen 
die Mehrheit in den Semstwo der westlichen Gou- 
vernements gesichert, die Selbständigkeit Finlands 
am 7. Juli 1910 aufgehoben. 
II. Fläche und Bevölkterung. Nach dem 
Umfang ist das russische Reich das größte Reich 
der Weltgeschichte, während es an Volkszahl hinter 
den britischen und chinesischen Reichen zurücksteht. 
Über Fläche und Bevölkerung, auch der Haupt- 
teile, nach den Zählungen von 1897 (die erste 
wirkliche Volkszählung, deren Verarbeitung bis 
1905 dauerte) und 1909 (über die erst einige 
vorläufige Ergebnisse vorliegen), gibt nachstehende 
Tabelle Aufschluß:
	        
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