Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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nur nach dieser Verfassung Gesetze zu geben und 
sich bei der Ausübung der Staatsgewalt an die 
Mitwirkung und Zustimmung einer Volksvertre- 
tung in bestimmten Fällen zu halten; wohl aber 
besitzt er die höchste selbstherrliche Gewalt, er ist 
Selbstherrscher geblieben in dem Sinn, daß ihm 
die ganze Fülle der Staatsgewalt zu eignem Recht, 
nicht etwa als vom Volk verliehen zusteht. Un- 
umschränkt ist der Zar nur noch gegenüber den 
Angehörigen des kaiserlichen Hauses. Die gesetz- 
gebende Gewalt übt der Kaiser aus im Verein mit 
dem Reichsrat (Staatsrat) und der Reichsduma 
(Staatsduma), soweit nicht bestimmte Rechtsge- 
biete der ausschließlichen Ordnung durch den 
Kaiser vorbehalten sind; ohne seine Bestätigung 
kann kein Gesetz zustande kommen. Er besitzt die 
Gesetzesinitiative auf allen Gebieten, wie die beiden 
andern Faktoren; die Staatsgrundgesetze jedoch 
können nur auf seine Initiative hin einer Revision 
unterzogen werden. Wie die Grundgesetze, so kön- 
nen auch die wichtigeren Verfassungsgesetze im 
engeren Sinn (die Organisationsgesetze des 
Staatsrats, der Duma, das Wahlgesetz zur Duma) 
nicht im Verordnungsweg aufgehoben oder abge- 
ändert werden (was aber trotzdem geschehen ist). 
Die Regierungsgewalt steht dem Kaiser 
allein im vollen Umfang zu; er übt sie in der 
„obersten“ Verwaltung unmittelbar aus, auf dem 
Gebiet der „untergeordneten“ Verwaltung wird 
von ihm eine gewisse Amtsgewalt gesetzlich be- 
stimmten Personen anvertraut. Zwecks Ausführung 
der Gesetze und zur Einrichtung und Durchführung 
der Staatsverwaltung erläßt er im Weg der höhe- 
ren Verwaltung Verordnungen (Ukase), die den 
Gesetzen entsprechen müssen (gesetzlich festgelegte 
Behördenorganisationen und Verwaltungsvor- 
schriften können demgemäß nicht im Verordnungs- 
weg aufgehoben werden). Der Kaiser hat die oberste 
Leitung aller auswärtigen Angelegenheiten, er er- 
klärt Krieg und schließt Frieden, er schließt Ver- 
träge ab, die zu ihrer Gültigkeit nur dann der 
Zustimmung des Parlaments bedürfen, wenn sie 
mit einer Gebietsabtretung verbunden sind oder 
die Anderung oder Aufhebung eines bestehenden 
Gesetzes bedingen; er hat den Oberbefehl über die 
Land= und Seestreitkräfte, deren Organisation, 
Dislokation, Ausbildung usw. er allein bestimmt, 
er verhängt den Kriegs= und die Ausnahmezu- 
stände (s. unten), ernennt und entläßt die Mini- 
ster, die Chefs der höheren Verwaltung und die 
übrigen Beamten, soweit nicht gesetzliche Bestim- 
mungen über Ernennung und Entlassung bestehen. 
Der Zar verleiht Titel, Orden, Auszeichnungen 
und andere Rechte, er hat das Recht, Verurteilte 
zu begnadigen, Strafen zu mildern, Verbrecher zu 
amnestieren unter Einstellung des eingeleiteten Ge- 
richtsverfahrens und gnadenweise Staatsforde- 
rungen niederzuschlagen, soweit nicht dadurch ge- 
setzliche Interessen und bürgerliche Rechte verletzt 
werden. Die vom Kaiser im Weg der obersten 
Verwaltung unmittelbar erlassenen Verordnungen 
Rußland. 
  
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und Besehle werden vom Vorsitzenden des Mi- 
nisterrats oder dem zuständigen Minister oder 
Verwaltungschef gegengezeichnet und vom Dirigie- 
renden Senat veröffentlicht (doch sind Fälle ohne 
ministerielle Gegenzeichnung nicht selten). 
Der Thron ist erblich im Mannesstamm des 
Luuses Romanow-Holstein -Gottorp nach der 
rdnung der Erstgeburt, geht nach dem Erlöschen 
der männlichen Linie auf die weibliche über und 
vererbt sich in dieser in der gleichen Ordnung mit 
dem Vorzug der männlichen Person vor der weib- 
lichen. Der Herrscher muß der orthodoxen Reli- 
gion angehören. Die Volljährigkeit ist für den 
Herrscher und den Thronfolger auf 16 Jahre fest- 
gesetzt. Die Regentschaft für einen minderjährigen 
Thronfolger steht, falls der regierende Kaiser keine 
Verordnung getroffen hat, dem Vater oder der 
Mutter des Nachfolgers, wenn solche nicht vor- 
handen sind, dem nächsten männlichen volljährigen 
Verwandten zu. Die Krönung und Salbung des 
Zaren und der Zarin findet in der Upenskijkathe- 
drale zu Moskau statt. Alle männlichen 12 Jahre 
alten Untertanen haben dem neuen Kaiser und 
dem Thronfolger den Untertaneneid zu leisten. 
Die Einkünfte der Krone fließen aus dem Etat 
des Ministeriums des kaiserlichen Hofs, den Apa- 
nagen für die Mitglieder des kaiserlichen Hauses, 
den Einkünften aus dem Domänenbesitz (Udel; 
an 7,9 Mill. Deßjätinen), aus dem sog. Kabinett 
des Kaisers, zu dem die Bergwerke im Altai, die 
Edelsteinschleifereien im Ural und der Tribut der 
sibirischen Fremdvölker (besonders Rauchwaren) 
gehören. Die Kaiserin, die Kaiserin-Witwe, die 
Kinder des Kaisers, der Thronfolger, dessen Ge- 
mahlin und Kinder erhalten bis zur Mündigkeit 
oder Verehelichung Apanagen aus der Staatskasse, 
der Thronfolger und seine Familie außerdem be- 
stimmte Summen, die nicht dem parlamentarischen 
Bewilligungsrecht unterliegen. 
Das Wappen Rußlands ist der schwarze 
zweiköpfige, einen goldenen Zepter und Reichs- 
apfel tragende Adler in goldenem Schild, gekrönt 
von zwei kaiserlichen Kronen, über denen eine 
dritte größere Krone mit den flatternden Band- 
enden des Ordens vom hl. Andreas schwebt; auf 
der Brust des Adlers befindet sich das Wappen 
von Moskau: im Purpurschild der mit goldenem 
Speer einen Drachen tötende hl. Georg zu Roß. 
Die russischen Orden sind der St Andreas-, der 
St Katharinen-, der St Alexander-Newskij-, der 
Weiße Adlerorden, der militärische St Georgs--, 
der St Wladimir-, der St Annen= und der 
St Stanislausorden; sie verleihen den persön- 
lichen, zum Teil den erblichen Adel (s. unten, V). 
Volksvertretung. Seit der Bestätigung 
der Grundgesetze (23. April a. St. 1906) ist der 
Zar bei Ausübung der Staatsgewalt an die Mit- 
wirkung und Zustimmung einer Volksvertretung 
gebunden, die aus den beiden Kammern des Reichs- 
rats (Staatsrats) und der Reichsduma gebildet 
ist. Beide Kammern werden vom Kaiser alljährlich 
 
	        
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