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nur nach dieser Verfassung Gesetze zu geben und
sich bei der Ausübung der Staatsgewalt an die
Mitwirkung und Zustimmung einer Volksvertre-
tung in bestimmten Fällen zu halten; wohl aber
besitzt er die höchste selbstherrliche Gewalt, er ist
Selbstherrscher geblieben in dem Sinn, daß ihm
die ganze Fülle der Staatsgewalt zu eignem Recht,
nicht etwa als vom Volk verliehen zusteht. Un-
umschränkt ist der Zar nur noch gegenüber den
Angehörigen des kaiserlichen Hauses. Die gesetz-
gebende Gewalt übt der Kaiser aus im Verein mit
dem Reichsrat (Staatsrat) und der Reichsduma
(Staatsduma), soweit nicht bestimmte Rechtsge-
biete der ausschließlichen Ordnung durch den
Kaiser vorbehalten sind; ohne seine Bestätigung
kann kein Gesetz zustande kommen. Er besitzt die
Gesetzesinitiative auf allen Gebieten, wie die beiden
andern Faktoren; die Staatsgrundgesetze jedoch
können nur auf seine Initiative hin einer Revision
unterzogen werden. Wie die Grundgesetze, so kön-
nen auch die wichtigeren Verfassungsgesetze im
engeren Sinn (die Organisationsgesetze des
Staatsrats, der Duma, das Wahlgesetz zur Duma)
nicht im Verordnungsweg aufgehoben oder abge-
ändert werden (was aber trotzdem geschehen ist).
Die Regierungsgewalt steht dem Kaiser
allein im vollen Umfang zu; er übt sie in der
„obersten“ Verwaltung unmittelbar aus, auf dem
Gebiet der „untergeordneten“ Verwaltung wird
von ihm eine gewisse Amtsgewalt gesetzlich be-
stimmten Personen anvertraut. Zwecks Ausführung
der Gesetze und zur Einrichtung und Durchführung
der Staatsverwaltung erläßt er im Weg der höhe-
ren Verwaltung Verordnungen (Ukase), die den
Gesetzen entsprechen müssen (gesetzlich festgelegte
Behördenorganisationen und Verwaltungsvor-
schriften können demgemäß nicht im Verordnungs-
weg aufgehoben werden). Der Kaiser hat die oberste
Leitung aller auswärtigen Angelegenheiten, er er-
klärt Krieg und schließt Frieden, er schließt Ver-
träge ab, die zu ihrer Gültigkeit nur dann der
Zustimmung des Parlaments bedürfen, wenn sie
mit einer Gebietsabtretung verbunden sind oder
die Anderung oder Aufhebung eines bestehenden
Gesetzes bedingen; er hat den Oberbefehl über die
Land= und Seestreitkräfte, deren Organisation,
Dislokation, Ausbildung usw. er allein bestimmt,
er verhängt den Kriegs= und die Ausnahmezu-
stände (s. unten), ernennt und entläßt die Mini-
ster, die Chefs der höheren Verwaltung und die
übrigen Beamten, soweit nicht gesetzliche Bestim-
mungen über Ernennung und Entlassung bestehen.
Der Zar verleiht Titel, Orden, Auszeichnungen
und andere Rechte, er hat das Recht, Verurteilte
zu begnadigen, Strafen zu mildern, Verbrecher zu
amnestieren unter Einstellung des eingeleiteten Ge-
richtsverfahrens und gnadenweise Staatsforde-
rungen niederzuschlagen, soweit nicht dadurch ge-
setzliche Interessen und bürgerliche Rechte verletzt
werden. Die vom Kaiser im Weg der obersten
Verwaltung unmittelbar erlassenen Verordnungen
Rußland.
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und Besehle werden vom Vorsitzenden des Mi-
nisterrats oder dem zuständigen Minister oder
Verwaltungschef gegengezeichnet und vom Dirigie-
renden Senat veröffentlicht (doch sind Fälle ohne
ministerielle Gegenzeichnung nicht selten).
Der Thron ist erblich im Mannesstamm des
Luuses Romanow-Holstein -Gottorp nach der
rdnung der Erstgeburt, geht nach dem Erlöschen
der männlichen Linie auf die weibliche über und
vererbt sich in dieser in der gleichen Ordnung mit
dem Vorzug der männlichen Person vor der weib-
lichen. Der Herrscher muß der orthodoxen Reli-
gion angehören. Die Volljährigkeit ist für den
Herrscher und den Thronfolger auf 16 Jahre fest-
gesetzt. Die Regentschaft für einen minderjährigen
Thronfolger steht, falls der regierende Kaiser keine
Verordnung getroffen hat, dem Vater oder der
Mutter des Nachfolgers, wenn solche nicht vor-
handen sind, dem nächsten männlichen volljährigen
Verwandten zu. Die Krönung und Salbung des
Zaren und der Zarin findet in der Upenskijkathe-
drale zu Moskau statt. Alle männlichen 12 Jahre
alten Untertanen haben dem neuen Kaiser und
dem Thronfolger den Untertaneneid zu leisten.
Die Einkünfte der Krone fließen aus dem Etat
des Ministeriums des kaiserlichen Hofs, den Apa-
nagen für die Mitglieder des kaiserlichen Hauses,
den Einkünften aus dem Domänenbesitz (Udel;
an 7,9 Mill. Deßjätinen), aus dem sog. Kabinett
des Kaisers, zu dem die Bergwerke im Altai, die
Edelsteinschleifereien im Ural und der Tribut der
sibirischen Fremdvölker (besonders Rauchwaren)
gehören. Die Kaiserin, die Kaiserin-Witwe, die
Kinder des Kaisers, der Thronfolger, dessen Ge-
mahlin und Kinder erhalten bis zur Mündigkeit
oder Verehelichung Apanagen aus der Staatskasse,
der Thronfolger und seine Familie außerdem be-
stimmte Summen, die nicht dem parlamentarischen
Bewilligungsrecht unterliegen.
Das Wappen Rußlands ist der schwarze
zweiköpfige, einen goldenen Zepter und Reichs-
apfel tragende Adler in goldenem Schild, gekrönt
von zwei kaiserlichen Kronen, über denen eine
dritte größere Krone mit den flatternden Band-
enden des Ordens vom hl. Andreas schwebt; auf
der Brust des Adlers befindet sich das Wappen
von Moskau: im Purpurschild der mit goldenem
Speer einen Drachen tötende hl. Georg zu Roß.
Die russischen Orden sind der St Andreas-, der
St Katharinen-, der St Alexander-Newskij-, der
Weiße Adlerorden, der militärische St Georgs--,
der St Wladimir-, der St Annen= und der
St Stanislausorden; sie verleihen den persön-
lichen, zum Teil den erblichen Adel (s. unten, V).
Volksvertretung. Seit der Bestätigung
der Grundgesetze (23. April a. St. 1906) ist der
Zar bei Ausübung der Staatsgewalt an die Mit-
wirkung und Zustimmung einer Volksvertretung
gebunden, die aus den beiden Kammern des Reichs-
rats (Staatsrats) und der Reichsduma gebildet
ist. Beide Kammern werden vom Kaiser alljährlich