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einberufen; die Dauer ihrer Arbeiten und der
Termin der Unterbrechung wird vom Kaiser be-
stimmt. Reichsrat und Reichsduma beraten und
beschließen selbständig. Die Mitglieder der Volks-
vertretung werden, mit Ausnahme der Hälfte des
Reichsrats, gewählt. Allgemeine Vorbedingungen
des aktiven Wahlrechts sind Vollendung des 25. Le-
bensjahrs und Besitz der russischen Staatsange-
hörigkeit; kein Wahlrecht haben Frauen, aktive
Angehörige der Armee und Marine, Ausländer,
landstreichende Fremdgebürtige (Nomadenvölker,
wie die Samojeden usw.), im Konkurs stehende
Personen oder solche, die wegen strafbarer, den
Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nach sich
ziehender Handlungen verurteilt oder in Unter-
suchung sind, wegen Desertion Verurteilte und
wegen lasterhafter Führung degradierte Geistliche.
Zur Wählbarkeit ist im allgemeinen die aktive
Wahlberechtigung erfordert, für die Wahl als
Reichsrat außerdem die Vollendung des 40. Le-
bensjahrs und der Besitz des Reifezeugnisses einer
Mittelschule. Die Wahlen erfolgen im allgemeinen
geheim durch Abgabe von Zetteln, bei Analpha-
beten durch Abgabe von Kugeln. Die Duma-
abgeordneten können nur in den Bezirken gewählt
werden, in denen sie ihren Wohnsitz haben.
Die Mitglieder beider Körperschaften genießen
Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung in
den Angelegenheiten, die zu ihrer Kompetenz ge-
hören; sie sind ihren Wählern gegenüber nicht zur
Rechenschaftsabgabe verpflichtet. Sie sind un-
verletzlich und können nur auf Grund richterlicher
Verfügung und nach vorheriger Genehmigung der
betreffenden Kammer verhaftet werden, außer wenn
das Mitglied auf frischer Tat oder im Lauf des
nächsten Tags festgenommen wird. Die Mit-
glieder des Reichsrats erhalten während der Tagung
täglich je 25 Rubel, die Dumaabgeordneten (seit
1908) einen Jahresgehalt von 4200 Rubeln und
je einmal im Jahr Ersatz der Reisekosten; falls
Dumamitglieder ohne Urlaub oder hinreichenden
Grund von den allgemeinen Sitzungen fern bleiben,
werden Abzüge gemacht. Die Kompetenz beider
Körperschaften ist die gleiche, nur werden Re-
gierungsvorlagen zuerst in der Duma eingebracht.
Sie haben das Recht, Anträge auf Aufhebung
oder Anderung bestehender Gesetze oder den Erlaß
neuer Gesetze (mit Ausnahme der Staatsgrund-
gesetze) zu stellen. Kein neues Gesetz kann ohne
ihre Mitwirkung zustande kommen; kaiserliche
Verordnungen können in der Zeit, da die Volks-
vertretung nicht tagt, wohl mit provisorischer Ge-
setzeskraft erlassen werden (nach 8 87 der Staats-
grundgesetze), sie dürfen aber keine Anderungen in
den Staatsgrundgesetzen, in den Organisations-
gesetzen des Reichsrats oder der Reichsduma treffen,
noch die Bestimmungen über die Wahlen zu bei-
den Körperschaften ändern; ihre Gültigkeit er-
lischt zwei Monate nach dem Zusammentritt der
Volksvertretung, wenn nicht ein entsprechender
Gesetzesentwurf inzwischen die Zustimmung der
Rußland.
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Volksvertretung erlangt hat. Beide Körperschaften
können sich an die Minister und Hauptchefs der
besondern Verwaltungen mit Anfragen (Inter-
pellationen) wenden wegen der ihnen ungesetzlich er-
scheinenden Handlungen dieser Behörden. Ihrer
Kompetenz unterstehen Gegenstände, die den Erlaß
von Gesetzen und persönlichen Etats erfordern,
deren Anderung und Aufhebung, der Voranschlag
der Einkünfte und Ausgaben des Staats mit den
Finanzanschlägen der Ministerien und Haupt-
verwaltungen sowie der Haushalt derjenigen Land-
chaften, in denen die Semstwoverwaltung nicht
eingeführt ist, ferner die im Etat nicht vorgesehenen
Geldanweisungen aus der Staatskasse, der Bericht
der Staatskontrolle über die Ausführung des
Budgets, die Veräußerung eines Teils der Staats-
einnahmen oder Staatsgüter, der Bau von Eisen-
bahnen auf Rechnung des Fiskus, die Errichtung
von Aktiengesellschaften, wenn es sich dabei um
Ausnahmen von den geltenden Gesetzen handelt,
schließlich alle Angelegenheiten, die ihnen auf be-
sondere kaiserliche Verordnung vorgelegt werden.
Der Kontrolle der Volksvertretung vollständig
entzogen sind Angelegenheiten, die sich auf das
Militär= und Marinegerichtswesen beziehen, alle
legislativen Fragen hinsichtlich der Organisation
der Land= und Seestreitkräfte und der Landes-
verteidigung, die Bestimmungen über die mili-
tärischen Ressorts des Frontdienstes, des technischen
und wirtschaftlichen Dienstes, Satzungen und In-
struktionen an bestehende militärische Behörden
und Amtspersonen. Nur wenn diese Gegenstände
allgemeine Gesetze berühren oder neue Ausgaben
aus der Staatskasse erfordern, die nicht aus ander-
weitigen Ersparnissen des Etats des Heeres oder
der Marine gedeckt werden können, unterliegen sie
der Kompetenz der Volksvertretung. Das Etats-
recht des Parlaments ist weiterhin durch kaiserliche
Verordnung vom 8. (21.) März 1906 insofern
erheblich eingeschränkt, als ein Teil des Staats-
haushalts seinem Bewilligungsrecht nicht unter-
stellt ist: die Ausgaben für die Staatsschuld und
die vom russischen Staat übernommenen Ver-
pflichtungen, für das Ministerium des Kaiserlichen
Hauses, die Ausgaben für die eigne Kanzlei des
Kaisers und für die „Kanzlei der Bittschriften“
in bestimmter Höhe, sowie der Posten von 10 Mill.
Rubel für unvorhergesehene außerordentliche Be-
dürfnisse (im Budget für 1909 betrug diese „ge-
panzerte“ Summe 423 Mill. Rubel). Andere
Posten der Einnahmen und Ausgaben, die auf
Grund geltender Gesetze, Verordnungen usw. oder
durch kaiserliche Befehle eingestellt sind, dürfen
weder gestrichen noch verändert werden, die Volks-
vertretung kann nur ihre Gesetzlichkeit prüfen oder
auf dem Weg der Gesetzesinitiative ihre Anderung
beantragen (1909 an 550 Mill. Rubel). Ist der
Staatshaushalt bis zum Beginn des neuen Etats-
jahres (das mit dem Kalenderjahr zusammenfällt)
nicht fertig beraten oder vom Kaiser nicht bestätigt
worden, so bleibt das letzte gesetzmäßig zustande
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