Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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einberufen; die Dauer ihrer Arbeiten und der 
Termin der Unterbrechung wird vom Kaiser be- 
stimmt. Reichsrat und Reichsduma beraten und 
beschließen selbständig. Die Mitglieder der Volks- 
vertretung werden, mit Ausnahme der Hälfte des 
Reichsrats, gewählt. Allgemeine Vorbedingungen 
des aktiven Wahlrechts sind Vollendung des 25. Le- 
bensjahrs und Besitz der russischen Staatsange- 
hörigkeit; kein Wahlrecht haben Frauen, aktive 
Angehörige der Armee und Marine, Ausländer, 
landstreichende Fremdgebürtige (Nomadenvölker, 
wie die Samojeden usw.), im Konkurs stehende 
Personen oder solche, die wegen strafbarer, den 
Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nach sich 
ziehender Handlungen verurteilt oder in Unter- 
suchung sind, wegen Desertion Verurteilte und 
wegen lasterhafter Führung degradierte Geistliche. 
Zur Wählbarkeit ist im allgemeinen die aktive 
Wahlberechtigung erfordert, für die Wahl als 
Reichsrat außerdem die Vollendung des 40. Le- 
bensjahrs und der Besitz des Reifezeugnisses einer 
Mittelschule. Die Wahlen erfolgen im allgemeinen 
geheim durch Abgabe von Zetteln, bei Analpha- 
beten durch Abgabe von Kugeln. Die Duma- 
abgeordneten können nur in den Bezirken gewählt 
werden, in denen sie ihren Wohnsitz haben. 
Die Mitglieder beider Körperschaften genießen 
Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung in 
den Angelegenheiten, die zu ihrer Kompetenz ge- 
hören; sie sind ihren Wählern gegenüber nicht zur 
Rechenschaftsabgabe verpflichtet. Sie sind un- 
verletzlich und können nur auf Grund richterlicher 
Verfügung und nach vorheriger Genehmigung der 
betreffenden Kammer verhaftet werden, außer wenn 
das Mitglied auf frischer Tat oder im Lauf des 
nächsten Tags festgenommen wird. Die Mit- 
glieder des Reichsrats erhalten während der Tagung 
täglich je 25 Rubel, die Dumaabgeordneten (seit 
1908) einen Jahresgehalt von 4200 Rubeln und 
je einmal im Jahr Ersatz der Reisekosten; falls 
Dumamitglieder ohne Urlaub oder hinreichenden 
Grund von den allgemeinen Sitzungen fern bleiben, 
werden Abzüge gemacht. Die Kompetenz beider 
Körperschaften ist die gleiche, nur werden Re- 
gierungsvorlagen zuerst in der Duma eingebracht. 
Sie haben das Recht, Anträge auf Aufhebung 
oder Anderung bestehender Gesetze oder den Erlaß 
neuer Gesetze (mit Ausnahme der Staatsgrund- 
gesetze) zu stellen. Kein neues Gesetz kann ohne 
ihre Mitwirkung zustande kommen; kaiserliche 
Verordnungen können in der Zeit, da die Volks- 
vertretung nicht tagt, wohl mit provisorischer Ge- 
setzeskraft erlassen werden (nach 8 87 der Staats- 
grundgesetze), sie dürfen aber keine Anderungen in 
den Staatsgrundgesetzen, in den Organisations- 
gesetzen des Reichsrats oder der Reichsduma treffen, 
noch die Bestimmungen über die Wahlen zu bei- 
den Körperschaften ändern; ihre Gültigkeit er- 
lischt zwei Monate nach dem Zusammentritt der 
Volksvertretung, wenn nicht ein entsprechender 
Gesetzesentwurf inzwischen die Zustimmung der 
Rußland. 
  
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Volksvertretung erlangt hat. Beide Körperschaften 
können sich an die Minister und Hauptchefs der 
besondern Verwaltungen mit Anfragen (Inter- 
pellationen) wenden wegen der ihnen ungesetzlich er- 
scheinenden Handlungen dieser Behörden. Ihrer 
Kompetenz unterstehen Gegenstände, die den Erlaß 
von Gesetzen und persönlichen Etats erfordern, 
deren Anderung und Aufhebung, der Voranschlag 
der Einkünfte und Ausgaben des Staats mit den 
Finanzanschlägen der Ministerien und Haupt- 
verwaltungen sowie der Haushalt derjenigen Land- 
chaften, in denen die Semstwoverwaltung nicht 
eingeführt ist, ferner die im Etat nicht vorgesehenen 
Geldanweisungen aus der Staatskasse, der Bericht 
der Staatskontrolle über die Ausführung des 
Budgets, die Veräußerung eines Teils der Staats- 
einnahmen oder Staatsgüter, der Bau von Eisen- 
bahnen auf Rechnung des Fiskus, die Errichtung 
von Aktiengesellschaften, wenn es sich dabei um 
Ausnahmen von den geltenden Gesetzen handelt, 
schließlich alle Angelegenheiten, die ihnen auf be- 
sondere kaiserliche Verordnung vorgelegt werden. 
Der Kontrolle der Volksvertretung vollständig 
entzogen sind Angelegenheiten, die sich auf das 
Militär= und Marinegerichtswesen beziehen, alle 
legislativen Fragen hinsichtlich der Organisation 
der Land= und Seestreitkräfte und der Landes- 
verteidigung, die Bestimmungen über die mili- 
tärischen Ressorts des Frontdienstes, des technischen 
und wirtschaftlichen Dienstes, Satzungen und In- 
struktionen an bestehende militärische Behörden 
und Amtspersonen. Nur wenn diese Gegenstände 
allgemeine Gesetze berühren oder neue Ausgaben 
aus der Staatskasse erfordern, die nicht aus ander- 
weitigen Ersparnissen des Etats des Heeres oder 
der Marine gedeckt werden können, unterliegen sie 
der Kompetenz der Volksvertretung. Das Etats- 
recht des Parlaments ist weiterhin durch kaiserliche 
Verordnung vom 8. (21.) März 1906 insofern 
erheblich eingeschränkt, als ein Teil des Staats- 
haushalts seinem Bewilligungsrecht nicht unter- 
stellt ist: die Ausgaben für die Staatsschuld und 
die vom russischen Staat übernommenen Ver- 
pflichtungen, für das Ministerium des Kaiserlichen 
Hauses, die Ausgaben für die eigne Kanzlei des 
Kaisers und für die „Kanzlei der Bittschriften“ 
in bestimmter Höhe, sowie der Posten von 10 Mill. 
Rubel für unvorhergesehene außerordentliche Be- 
dürfnisse (im Budget für 1909 betrug diese „ge- 
panzerte“ Summe 423 Mill. Rubel). Andere 
Posten der Einnahmen und Ausgaben, die auf 
Grund geltender Gesetze, Verordnungen usw. oder 
durch kaiserliche Befehle eingestellt sind, dürfen 
weder gestrichen noch verändert werden, die Volks- 
vertretung kann nur ihre Gesetzlichkeit prüfen oder 
auf dem Weg der Gesetzesinitiative ihre Anderung 
beantragen (1909 an 550 Mill. Rubel). Ist der 
Staatshaushalt bis zum Beginn des neuen Etats- 
jahres (das mit dem Kalenderjahr zusammenfällt) 
nicht fertig beraten oder vom Kaiser nicht bestätigt 
worden, so bleibt das letzte gesetzmäßig zustande 
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